



Bildergeschichten
Immer Freitags.
Hier und auf Instagram.
Einmal pro Woche schlüpfe ich für ein Foto in eine fremde Rolle. Die Miniaturen, die dazu entstehen, erzählen
vom alltäglichen Leben gewöhnlicher Leute. Diese "Bildergeschichten", ursprünglich für Instagram konzipiert, gibt es nun auch hier.
Manchmal
Manchmal fühlt sie sich wie dieses Moskitonetz: durchlässig, ein wenig verschwommen, aber doch nützlich, irgendwie. Will sie nützlich sein? Natürlich nicht. Wer will das schon. Wer kommt auf die Welt mit dem Ziel, anderen zu dienen? Es mag sein, dass es so kommt, ja. Aber, denkt sie, es war sicher nie der Wunsch.
Damit will sie nicht sagen, dass etwas dagegen spräche. Aber, denkt sie, träumt nicht jeder Mensch davon, sein Leben nach seinen eigenen Regeln und Wünschen zu gestalten? Gut möglich, dass daraus etwas entsteht, dass anderen Gutes tut. Aber das ist doch etwas anderes, als dieses elende Nützlichsein… sich selbst hintenanstellen… aufgehen in der Gemeinschaft. Sich selbst verleugnen.
Sie selbst hat ihn noch nicht gefunden, ihren Wunsch, mit dem sie glücklich wird. Sie hilft anderen, dort, wo sie gerade ist. Und das tut ihr wohl. Aber gehört zum Glück nicht Sesshaftigkeit? Halt? Verlass? Das muss doch so sein, denkt sie, wenn sie wieder ihre Tasche packt und weiterzieht, weiter auf der Suche nach sich selbst.
Und während sie ihr Lager in einem neuen kargen Raum unter einem fremden Himmel und zwischen unbekannten Menschen aufschlägt, lächelt sie schief. Manchmal, denkt sie, da spricht sie eben in der dritten Person – und meint sich selbst.


Das Bad
Wenn die Hitze unerträglich wird und sie vom tiefen Schnee des Winters fantasiert, weiß sie, bald ist der Herbst gekommen. Denn unerträglich wird der Sommer erst kurz vor seinem Ende. Und sie seufzt erwartungsvoll.
Es sei nicht nett von ihr, das Ende der Wärme herbeizureden, sagen die Leute und wahrscheinlich haben sie Recht. Was kann sie aber dafür, dass sie sich fühlt wie Amphibien – nur andersherum? Dass die Hitze sie bis zur Starre lähmt und sie die Zeit am liebsten in einem Erdloch verschlafen würde. Er quält sie, der Sommer.
So verlässt sie in diesen Wochen das Haus kaum noch, die Fenster sind gegen Hitze und Grelle verbarrikadiert. Sie schläft, wann immer sie kann. Und wenn der Tag zur Neige geht, Glühwürmchen in der Finsternis tanzen und Fledermäuse um die Giebel flirren, lebt sie vorübergehend auf. Eisiges Wasser vertreibt die Schläfrigkeit und fieberhaft stürzt sie sich in ihre Aktivitäten.
Ein paar Stunden nur, dann muss sie wieder warten – auf die nächste Nacht.
Liebe II
„Was hast du nur wieder an…“
„Ich mag das Kleid.“
„Es ist altmodisch.“
„Nun, und wenn schon. Mir gefällt’s. Außerdem sind diese Ärmel wieder furchtbar in.“
„Seit wann achtest du darauf, was ‚in‘ ist?“
„Tue ich gar nicht. Aber das eine oder andere pickt man eben auf. Und ich dachte, dich versöhnt es vielleicht zu wissen, dass es gar nicht altmodisch, sondern in Wahrheit total aktuell ist…“
„Hm. Und das glaubst du wirklich?“
„Nö.“
„Wie auch. Na, egal. Was kochst du denn da?“


Liebe
Seit wann kocht sie so gern? Sie steht am Herd, das Fauchen der kleinen Gasflamme tönt wie Musik an ihr Ohr. Durch das geöffnete Fenster haucht ein leiser Luftzug; er trägt Grillenzirpen mit sich und Hundebellen aus dem Tal.
Ihre nackten Füße bewegen sich auf den Terrakotta-Fliesen im Takt ihrer eigenen Melodie, die Wärme des Tages durchtränkt sie ganz.
Oben im Haus hört sie Schritte. Dann ein Knarzen der alten Eichentreppe. Pfeifen nun – sie hasst Pfeifen. Eigentlich. Und doch lächelt sie mit einem Mal. Sie kann nicht anders.
Liebe, denkt sie, Liebe, wie schön du bist.
Zu spontan
„Autsch!“
Der Weg ist das Ziel? Unfug. Sie schnaubt leise, während sich ein weiterer Stein in ihre Fußsohle bohrt und die Hitze des Tages noch immer auf ihre Schritte drückt.
Warum ist sie bloß aus diesem verdammten Auto gesprungen? Sie hätte einfach sitzenbleiben und den Streit durchstehen sollen. Das tun sie schließlich oft: streiten. Die Krisen kommen so schnell wie ein Gewitterregen. Und ebenso plötzlich wie jener verhallen sie in der Unendlichkeit.
Es sollte doch so ein schöner Abend werden.
Davon ist nun nichts geblieben, als die unbequemen Sandalen in ihrer Hand und der bittere Nachgeschmack von Wut. Worüber sind sie aneinandergeraten? Wenn sie wenigstens das noch wüsste.
Stattdessen erinnert sie sich nur an jeden spitzen Stein und jeden trockenen Grashalm, der ihre nackten Füße auf dem kilometerlangen Weg bergauf malträtiert hat und spürt das Prickeln der untergehenden Sonne in ihrem Nacken. Sie ist ihrem Ziel noch nicht einmal nahe.
„Autsch!“, zischt sie durch zusammengepresste Zähne. Sie will einfach bloß ankommen.

Reise

Es war so einfach gewesen. Und doch kann sie nicht mehr sagen, wie es passierte.
Heute morgen war sie in den alten Rolls gestiegen – ihn einfach mal bewegen. Das Wetter hatte über Nacht aufgeklart; nach dem Regen der vergangenen Wochen brütete nun die Sonne wieder vom Himmel.
Eigentlich war es zu warm zum Fahren. Aber sie hatte Sehnsucht gehabt. Nach dem Wagen. Nach der Straße. Nach sich selbst.
Denn wenn sie im Phantom III saß, konzentrierte sie sich nur auf ihn. Dann spielten die vielen Dramen ihres Alltags keine Rolle mehr. Alles, was sie wahrnahm, war der gleichmäßige, seidenweiche Lauf des Zwölfzylinders, in den sie stets mit der liebevollen Sorge einer aufmerksamen Mutter hineinhorchte.
Keine Fehlfrequenz zu hören – natürlich nicht. Dazu pflegten sie ihn zu gut. Und so war ihre Aufmerksamkeit abgeschwenkt, hatte wieder die hübschen Weiler an ihrer Route bewundert und sich über die hölzernen Strommasten inmitten wallender Felder gefreut.
Bis sie schließlich ausblieben. Statt gewaltiger John-Deere-Landmaschinen sah sie winzige Porsche-Traktoren in den Höfen stehen, vereinzelt grüßten beschürzte Bäuerinnen respektvoll zu ihr herüber.
Da wunderte sie sich.
Wo sie sonst tankte, blickt sie nun in weites Land. Ein paar Störche staksen durch die Wiesen. Schwalben jagen über den Himmel. In allem dämmert Stille. Selbst der Rolls schweigt.
Aus ihrer Fahrt ist eine Reise in die Vergangenheit geworden. Sie weiß nicht, wie es dazu kam. Und sie weiß auch nicht: Will sie je zurück?
Letzte Rose
Contessa trägt ihre letzten Knospen. Die Blütenblätter wiegen sich wie rosige kleine Debütantinnen in der sanften Brise, tanzen ihren Abschiedstanz. Ehe sie entblättert zu Boden sinken.
Ist es ein Zeichen des nahenden Endes?
Wenn sie morgens durch den noch taufeuchten Garten geht, den heißen Becher zwischen den klammen Fingern, und der Dampf des Kaffees sie in die Nase zwickt, vermerkt sie jede neue verwelkte Blüte.
Am Boden mischen sich Vergissmeinnichtblätter und lang vertrocknete Narzissenstängel – ein warmes Heim für allerlei Getier im Winter. Noch ist er fern; der Sommer noch nicht einmal in seinem Zenit.
Und doch: Sie sieht bereits den Herbst, ahnt ihn in jedem welken Blatt.
Sie seufzt tief, nun, da sie die Rose um eine weitere vergangene Blüte bringt, zartrosa Blättchen matt durch ihre Finger rieseln.
„Ach“, seufzt sie, „wenn er doch ewig bleiben würde…“

Oper

„Und, bist du nun glücklich?“
„Ach, ja. Doch. Das war es zwar nicht, was ich letztens meinte, aber die Idee gefällt mir…“ Sie lacht ein wenig, unschlüssig, wie er findet.
„Es tut mir leid, aber du kriegst mich einfach nicht mehr in Diskos, das ist mir wirklich zu laut.“
„Ja, und die Getränke zu teuer. Das hast du neulich gesagt. Ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass das noch was für uns wäre. Allerdings gibt es ja noch was zwischen Disko und Oper.“
„Du kennst mich…“, er grinst. „Entweder, oder. Außerdem gefällt es dir doch, dich herauszuputzen.“ Das weiß er wirklich.
Trotzdem war er sich nicht sicher gewesen, wie sie seinen Plan aufnehmen würde, als er die Karten kaufte und den Tisch im Restaurant reservierte. Sie war manchmal so schwer zu lesen. War es ihr bei ihrer Klage letztens wirklich bloß um das Beisammensein gegangen? Oder fehlte ihr das Weggehen doch mehr, als sie gesagt hatte?
Er mustert sie unauffällig im Spiegel, während er den Reißverschluss in ihrem Rücken schließt. Eben jetzt steht eine kleine Falte zwischen ihren Brauen und sie spielt mit ihrem Ehering. Dreht ihn rechts und dreht ihn links. Ganz versunken scheint sie in die Tätigkeit zu sein.
Nun blickt sie auf, begegnet seinem Blick. Leichte Röte wallt in ihre Wangen. Dann dreht sie sich, streicht über seine Stirne. Haucht einen Kuss auf seine Lippen. Verharrt dort.
Murmelt: „Das war eine tolle Idee – ich freu mich wirklich. Bloß hätte ich nicht grad’ Wagner ausgesucht…“
Gestrandet
Es ist das große Niemandsland: Jene Wüste zwischen den Städten. Parkplätze, Reihe an Reihe, soweit das Auge blicken kann. Es gibt hier nichts. Nur Asphalt und Nacht.
Sie ist hier gestrandet auf ihrer einsamen Fahrt.
Wo will sie hin? Sie weiß es nicht; noch nicht. Immer wieder sagt sie es sich vor, um sich am Einnicken zu hindern, erzählt sich diesen Satz wie eine unendliche Geschichte: „Ich werd’ es wissen, wenn ich es seh’.“
Doch stimmt das? Ist sie möglicherweise längst vorbeigefahren an ihrem Ziel und hat es bloß nicht wahrgenommen? Blind vor Müdigkeit und Zweifel?
Oder ist es dieser Parkplatz? Dieses Nichts zwischen Satellitenstädten am State Highway Richtung Süden. Das kann aber doch das Leben nicht für sie vorgesehen haben?
Nur kurz die Beine vertreten, denkt sie. Dann kann ich weiterfahren.
„Hey“, klingt da eine Stimme durch die Nacht. „Schrecklich hier, findest du nicht?“
„Ich weiß nicht“, meint sie. „Vielleicht ist es sogar sehr schön. Mal sehen…“

Zusammen

„Wir gehen nie mehr aus…“ Sie lutscht an ihrem Eierlöffel und guckt unzufrieden.
Er seufzt innerlich. Wird das jetzt eine dieser tiefschürfenden Debatten, die sie mit Vorliebe beim Frühstück anzettelt? Selbstverständlich verschweigt er den Gedanken – er will es nicht schlimmer machen. Noch besteht Hoffnung, dass ihre Klage nicht den ganzen Tag ruiniert. Er musst bloß vorsichtig sein.
„Fehlt es dir denn? Wir haben es doch sehr gemütlich so zu zweit.“ Uuuh, kam das so rüber, wie er es beabsichtig hat? Oder fühlt sie sich jetzt bevormundet? Sie fühlt sich leicht bevormundet. Obwohl er es nie so meint.
„Hmmm… Ja, doch. Es war immer so nett. Weggehen, Zeit miteinander verbringen, heimkommen, dann, vielleicht, na, du weißt schon –“ sie sieht von ihrem Ei auf, spitzbübisch. Ein gutes Zeichen; es besteht also keine konkrete Gefahr einer Eskalation. Immerhin.
Er beginnt sich zu entspannen. „Für ‚du weißt schon‘ brauchen wir doch nicht wegzugehen.“ Er zwinkert. „Und Zeit verbringen wir doch ständig miteinander.“
„Ja. Aber das ist was anderes.“
Er wird sie nie verstehen. Warum ist es was anderes, wenn man umgeben von viel zu vielen Menschen bei viel zu lauter Musik viel zu teure Drinks trinkt, statt gemütlich zuhause zu sitzen? Nein, denkt er. Natürlich ist es was anderes. Aber wie kann jemand das erste dem zweiten vorziehen? „Fehlen dir die Leute? Oder die Musik? Die Drinks?“ Er versucht es ja. Er gibt sich wirklich Mühe – hoffentlich merkt sie das auch.
„Alles irgendwie. Nein. Ich weiß: Wenn wir weggegangen sind, haben wir uns immer aufeinander konzentriert, auch wenn Freunde dabei waren. Aber wir waren immer ZUSAMMEN.“ Sie hat jetzt die Stirn in Falten gelegt, was er nicht ausstehen kann.
Wahrscheinlich merkt sie selbst, was sie für einen Quatsch redet. Aber ist es Quatsch? Er ahnt einen Gedanken, ganz hinten im Kopf, noch nicht ganz greifbar.
„Wenn wir hier sind, sind wir zwar beieinander, aber jeder beschäftigt sich mit seinen eigenen Dingen. Das IST was anderes.“
Gut, ja, da hat sie recht. Himmel, ja! Warum ist ihm das nie aufgefallen? Und da ist er endlich, der Gedanke. „Zieh dich hübsch an heut’ Abend. Wir bleiben zuhause, ich hab’ eine Idee.“
Leistung
„Bist du stolz auf dein Leben?“
„Freilich, wie könnte ich es nicht sein?“
„Nun, viel getan hast du nicht, meine ich, um es dir zu verdienen…“
„Was meinst du mit ,viel getan’?“
„Na, du weißt schon: geleistet.“
„Ach, Leistung. Ja. Verstehe. … Aber sag: Was zählt denn? Was muss ich geleistet haben, um ein gutes Leben zu verdienen?“
„Nützlich sein. Fleißig. Arbeiten… Was soll die Frage überhaupt?“
„Darf ich nicht fragen? Es ist so eine selbstverständliche Wendung, dieses ,Du musst was geleistet haben’ und ich weiß überhaupt nicht, was es eigentlich meint.“
„Du stellst dich absichtlich dumm, glaub’ ich. Es ist doch nicht ok, wenn Leute ohne viel zu tun so viel erreichen!“
„Da ist es wieder, dieses ,viel tun’. Du meinst, Erben sei also ethisch nicht in Ordnung. Oder Stehlen. Betrügen? Mir fällt sonst nicht viel ein, wie man es ohne Leistung zu etwas bringen kann – das meinst du sicher mit erreichen?“
„Ja, natürlich. Dann hast du also geerbt? Ich unterstelle, du bist kein Verbrecher.“
„Ist denn Erben in deinen Augen kein Verbrechen? Es klingt fast so. Aber nein, ich habe nicht geerbt. Ich habe geheiratet.“
„Ah! Ich hatte also Recht: Viel getan hast du nicht.“
„Das sagt eine Frau, die ihr Leben damit verdient, sich Geschichten auszudenken. Aber ich sag dir was: Eine gute Ehe ist verdammt viel Arbeit.“

Grace

Sie lebt einen Traum, das ist ihr wohl bewusst.
Als kleines Mädchen hat sie mit der Großmutter im Fernsehen „High Society“ gesehen. Großmutter liebte Frank Sinatra. Und sie verliebte sich in Grace Kelly.
„Oma! So will ich auch mal sein“, hauchte sie mit glänzendem Blick; da wandelte Grace als Tracy Lord gerade in einem seidigen Morgenmantel durch ihr Schlafzimmer.
Heute lebt sie in einer Wohnung etwa so groß wie jenes Filmschlafzimmer. Ihr Haar ist dunkel statt golden. Und sie hat zwar einen Ex-Mann, doch der singt längst schon keine Liebeslieder mehr für sie. An ihrem Entschluss hat sie dennoch festgehalten.
Wenn sie abends nach Hause kommt, das penetrante Piepen der Aldi-Kasse noch immer im Ohr, da wird sie zu Tracy Lord. Sie streift den seidenen Morgenmantel über, schlüpft in die Pumps mit dem kleinen Fellpuschel und lässt sich von Frank Sinatra Liebeslieder singen.
Es ist ein Traum, ja. Aber ein glücklicher.
Das Foto
Bei den Pflanzen findet sie Ruhe. Sie fragen nicht und sie fordern auch nicht. In ihrer Gegenwart kreisen die Gedanken nicht unaufhörlich um den immergleichen Punkt. Wo mag er sein? Wie mag es ihm gehen? Wird er wiederkommen?
In einem Medaillon trägt sie sein letztes Foto um den Hals; er hat es ihr geschickt aus der Gefangenschaft. Auf dem Bild sieht er viel fröhlicher aus, als sie sich fühlt. Er wirkt gesund. Immerhin.
Wenn sie könnte, würde sie ihm ein Foto von sich senden – damit auch er sie bei sich habe. Doch eigentlich mag sie sich ihm so nicht zeigen, die dunklen Schatten unter ihren Augen, der fragende Blick. Er würde sich Sorgen machen. Und das soll er nicht.
Doch wenn sie es schickte, ein schönes Foto von sich, dann würde sie dazu schreiben:
Uns geht es gut. Deinen Pflanzen und mir.
Aber sie weiß keine Adresse.

Durchschaut

„Hast du schon was vor?“
„Nein, ich wollte den freien Tag genießen.“ In der Leitung herrscht kurz Stille. Dann klingt ein misstrauisches „Weshalb fragst du?“ hinterher.
„Och, einfach nur so.“
„Nein. Du suchst Ausflüchte.“
„Gar nicht wahr!“
„Wie viel hast du heute schon geschrieben?“
„Allerlei. Ich weiß nicht, was das damit zu tun hat.“
„Wenn es allerlei wäre, dann würdest du nicht anrufen.“
Sie hasst es, wenn ihre Freundin so direkt ist und sie durchschaut.
„Ok. Gut! Ich mag nicht schreiben, ich weiche aus. Ich mache alles Mögliche und wenn ich mich schließlich an den Schreibtisch zwinge, starre ich aus dem Fenster und tippe lustlos ein paar Anfänge. Es ginge, weißt du, wenn ich das nötige Durchhaltevermögen hätte. Sonst geht es ja auch. Aber dieses Mal hab ich einfach keine Lust. Zufrieden?!?“
„Ich schon. Und du?“
7 Stunden
Die Stadt ist müde geworden. Ihre Straßen glänzen vom Regen und glitzern vom Schein der Leuchtreklamen. Wer kann, bleibt drinnen – in seinem Heim, im Büro.
Aber nicht jeder kann. Oder will.
Junge Frauen eilen vorüber, schlenkern ihre Einkaufstaschen. Der Tag war erfolgreich für sie, sie haben Geld ausgegeben und Freundinnen getroffen. Ein letzter Drink noch, Küsschen links und Küsschen rechts, dann wird jede in eine andere S-Bahn springen. Froh, dem Lärm, dem Schmutz, der Nässe zu entkommen. Geschafft vom Rausch der Massen.
Für andere dagegen beginnt der Tag erst mit der Nacht. Sie schlendern durch die Dunkelheit, die niemals finster ist. Sie kennen keine Eile und der Regen stört sie nicht.
Ein Streifenwagen rollt vorbei, dicke Tropfen hämmern auf sein Dach. Seine Insassen, froh, wenigstens im Schutz des Autos zu sitzen, gähnen hinter vorgehaltener Hand. Noch sieben Stunden Schicht.

Erbe

Da steht er nun, flach, breit, rot. Sie weiß gar nicht, was sie damit anfangen soll – sie kann gar nicht Auto fahren. Das war schließlich nie nötig. Ihr Mann fuhr ja und er fuhr ohnehin besser als jeder andere. Was hätte sie da schon gesollt. Also war sie zufrieden, es passte ganz gut.
Nun aber passt gar nichts mehr. Plötzlich muss sie den Heizungsmonteur empfangen und mit dem Bankmenschen verhandeln. Das ist gar nicht so leicht, ohne Erfahrung. Zum Einkaufen lässt sie ein Taxi kommen. Das wenigstens kriegt sie hin.
Aber da ist eben noch etwas: der Ferrari draußen in der Garage. Den fährt der Mann nun auch nicht mehr, niemand fährt ihn. Soll sie das Auto verkaufen? Sie kann ja nichts damit anfangen. Hätte er das gewollt? Sie weiß es nicht. Sie haben nie darüber gesprochen – rechneten ja nicht damit, dass…
Irgendwann vielleicht, denkt sie, als sie das Garagenlicht anknipst. Irgendwann. Noch jedenfalls mag sie sich nicht trennen. Langsam tritt sie heran, an den Roten. Vorsichtig streckt sie die zitternde Hand aus, fährt über den kühlen, glänzenden Lack.
„Wenn der Ferrari in der Garage steht, kontrolliere, ob er am Batterietrainer hängt.“
Ganz deutlich hat sie den Satz noch in den Ohren. Und sie zieht seinen Overall an, öffnet die Heckklappe, prüft die Verbindung von Trainer und Polen.
Vielleicht will sie ihn überhaupt nicht verkaufen. Ihr Blick fällt aufs Lenkrad. Ja, genau, sie könnte doch…
Berufung
Damals, als sie studierte, sagten die Leute zu ihr: „Jura?!? Das wär’ nix für mich – viel zu trocken. Ihr paukt doch bloß Paragrafen.“
Sie versuchte dann, jedenfalls zu Beginn, ihnen zu beweisen, dass Rechtswissenschaften spannend seien. Dafür erntete sie befremdete Blicke und mitleidiges Kopfschütteln. Ihre beste Freundin meinte: „Was soll’s, du warst schon immer komisch. Ich mag dich trotzdem.“
Nun, lange Jahre nach dem zweiten Staatsexamen, hat sie sich mit dem Unverständnis abgefunden. Und die Leute haben ihre Meinung geändert. Sie finden Jura zwar noch immer todlangweilig, aber sie haben entdeckt, dass sie hin und wieder Juristen brauchen.
Sie selbst liebt ihr Fach noch immer. Sie schmunzelt, wenn sie an ihren Strafrechtsdozenten und seine Ermahnung denkt: „Vergessen Sie nicht, Sie schauen zunächst immer, ob die Klage Formfehler aufweist. Dann brauchen Sie sich nicht drum zu kümmern und können raus auf den Golfkurs. Und das wollen Sie doch alle: golfen.“
Nein, denkt sie, wenn sie sonntags in ihrem Büro mit den großen Fensterflächen sitzt und über einen neuen Fall nachdenkt. Nein. Ich nicht. Ich will nicht golfen. Ich habe eine andere Berufung: Strafrecht.

Nachtwache

„Bist du immer noch wach?“ Seine Stimme klingt verquollen vom Schlaf, ein wenig lallend und müd’, vor allem aber unwillig. Er mag es nicht, wenn das Licht ihrer Nachttischlampe ihn aus dem Halbschlaf zerrt.
Und sie mag es nicht, gestört zu werden. Gerade jetzt – bei Kapitel… sie blättert einige Seiten zurück… bei Kapitel 28. Es fehlen nicht mehr viele. Der Stapel Blätter zwischen den Fingern ihrer rechten Hand ist in den stillen Stunden zusammengeschmolzen. Höchstens 50, 60, naja, höchstens noch 100 Seiten mögen es sein.
„Mach doch endlich das Licht aus. Du kannst doch morgen fertig lesen.“ Seine Stimme ist fester geworden mit zunehmender Wachheit, bestimmter. Fordernder. Als nächstes wird er –
„Ich finde dich wirklich egoistisch. Wenn du unbedingt noch lesen willst, dann geh’ doch aufs Sofa. Wie soll ich hier schlafen, wenn dein verdammtes Licht die ganze Zeit brennt?“
Da, bitteschön, da ist sie schon. Die Anklage.
Sie seufzt genervt. Wie schön war doch das Leben vor ihm. Nächtelang konnte sie lesen. Und niemand klagte über ihre Nachttischlampe!
„Machst du aus???“ Jetzt klingt er putzmunter. Und wütend.
„Jaja, schon gut.“ Mit einem anklagenden „Paffff“ klappt das Buch zu. Die Lampe klickt. Dunkelheit.
Kurz darauf, sein Atem dröhnt wieder friedlich durch die finstere Stille, knistern die Decken. Schaben. Etwas klickt unterdrückt. Seiten rascheln gedämpft.
Zufrieden blättert sie zu Seite 355, vertieft sich erneut in die Geschichte. Ihr Deckenzelt kaschiert das Licht der Taschenlampe. Und ihre Ehe hat eine weitere Nacht überlebt.
Gedenken
Vom Kirchturm her dröhnt es durch die sonntägliche Stille. Boum… boummm... boummmmm… mahnen die Glocken.
Ein Mütterchen hackt Unkraut am Grab ihres Mannes – und dem ihrigen. Der Stein kennt längst ihren Namen, scheint anklagend auf die leeren Stellen in ihren Lebensdaten zu verweisen.
Ein Mann legt Blumen an ein unbeschriebenes Kreuz. Faltet die Hände und senkt den Blick. Versteinert. An wen mag er denken?
Boum… boummm... boummmmm… klagen die Glocken.
Und dort ist sie. Sie ist niedergesunken am alten Grab; dessen Marmorplatte überwuchert Efeu und Zauberschnee. Schluchzen schüttelt die arme Seele, zitternde Finger krallen sich um ein gestärktes Taschentuch. Zerknüllen es.
„Es tut mir leid“, wispert sie. „So leid.“
Boum… boummm... boummmmm… antworten die Glocken.


Holz
Sie ist wieder hinaus gegangen in die Kälte und den Regen, hat die Säge eingeladen und ist in ihren Wald gefahren. Dort liegt noch genug Totholz von den letzten Herbststürmen, das muss weggeräumt werden.
Ein paar Bäume wird sie fällen müssen, denkt sie nun, als sie durchs Unterholz stapft und ihr Blick wandert. Die Buche dort drüben, die sieht ein wenig angeschlagen aus. Die wird kaum den nächsten Sturm überstehen.
Während sie sich an die Arbeit macht, das Rasseln der Säge in ihren Ohren klingt und plötzlich sogar die Sonne scheint, freut sich sich bereits auf das Feuer heute Abend daheim. Schon hört sie das Flüstern der Flammen im großen Kamin, glaubt zu spüren, wie die Wärme ihre klammen, steifen Finger umschmeichelt.
Sie schmunzelt ein wenig. Denkt: „Sollen sie doch alle mit Strom heizen. Ich bleibe bei meinem Holz. Es gibt nix Schöneres.“
Träume
Es ist dann doch alles anders gekommen, als sie es sich zurechtgelegt hatte. Der Plan für ihr Leben – er hatte so schön geklungen. Doch war war daraus geworden? Eine Travestie.
Manchmal, wenn sie so dasaß nach der Arbeit und noch schnell eine Zigarette rauchte, ihr Blick über heruntergekommene Häuser und rostige Autos glitt, dachte sie: „Irgendwo sitzt jemand und hat einen Heidenspaß. Ich weiß nicht, wer er ist und ich weiß nicht, was ich ihm getan haben könnte, dass er alle meine Bemühungen vereitelt. Aber er scheint es mit großer Hingabe zu tun.“
Dann ist die Zigarette aufgeraucht und unten auf der großen Straße hupen sie wieder wie besinnungslos.
Sie legt das Smartphone zur Seite. Schnippt den Kippenstummel hinterher. Auch dieser Makler hat sich nicht zurückgemeldet. Auch dieser Traum ist also am Ende geplatzt.

Babydoll

Er: „Aber Schatz, muss denn das sein?“
Sie: „Ja. Es ist ein Teil von mir.“
Er: „Ich dachte, das hättest du längst hinter dir gelassen?“
Sie: „Wie bist du darauf gekommen?“
Er: „Ich weiß nicht. Dachte es eben.“
Sie: „Ich hab’ es immer gesagt: Du liebst bloß eine Fantasie.“
Er: „Nein. Es tut mir weh, wenn du sowas sagst.“
Sie: „Dann sage, dass du mich liebst.“
Er: „Ich liebe dich.“
Sie: „Ganz egal, wie ich bin?“
Er: „Ganz egal – naja, nein, das stimmt nicht.“
Sie: „Siehst du, ich hab’s doch gewusst.“
Er: „Hör auf damit. Das bist du nicht, du tust bloß so.“
Sie: „Blödsinn.“
Er: „Nein. Und nun hör’ auf mit dem Quatsch.“
Sie: „Und dann?“
Er: „Dann liebe ich dich wirklich.“
Im Schatten
Eifersucht. Misstrauen. Verrat. Sie lebt vom Unglück anderer. Was soll sie machen – der Beruf ist zu ihr gekommen, ererbt, ungefragt. Denn Spionieren… das hat sie nie gewollt.
Sie malt viel lieber. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie Farben, grell und ungestüm, ihr ganzer Geist scheint bloß aus Farben zu bestehen. Wenn sie träumt, ist ihr, als spülte eine bunte Welle sie mit sich fort; kreischend und weinend schlägt sie um sich, reckt den Kopf, versucht, irgendwie, bloß nicht unterzugehen. Immer wieder, jedes Mal. Sie weiß nicht, wie sie diesem Traum entfliehen kann.
Ihr Vater sagt: „Die Kanzlei hat schon dein Urgroßvater geführt, in der Dreyfuß-Sache hat er uns damals einen Namen gemacht. Das verpflichtet, hörst du?!“
Sie hört nicht, auch wenn er fragt. Sie kennt das alles doch schon längst. Sie kennt die ganze Geschichte, sie kennt die Opfer, die ihr Vater brachte, die Ambitionen, die auch er hatte.
Dass ein Name verpflichtet, das glaubt sie nicht. Was hat er ihr auch gebracht, der Name? Böse Träume. Und aus dem Misstrauen anderer, das sie nährt, ihr Arbeit gibt, ist ein anderes Misstrauen geworden: Ein Misstrauen gegen sich selbst.
Und so bleibt auch sie nur ein Schatten in der Dunkelheit.

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Todesengel
Sie kommt, wenn die Welt unter Schnee versinkt, wenn das Land rein und unschuldig im Zwielicht dämmert. Dann tanzt sie durch das weite Nichts. Ihr Lachen knistert in der Luft. Sie trägt die Unschuld eines Kindes in sich, ist voller funkensprühendem Leben. Doch kommt mit ihr Verwüstung, Unheil, Tod.
Sie will es nicht. Aber es ist ihre Bestimmung.
Sie hat innegehalten, jetzt, in ihrem Tanz. Schweigend steht sie da, festgefroren. Selbst der Wind hält seinen Atem an. Wie mag es weitergehen?
Sie entkommt dem Schicksal nicht…
Mindestlohn
Sie ist nach Hause zurückgekehrt, zu ihren Eltern. Es fühlt sich wie Versagen an.
Aber das Geld reichte nicht mehr. Egal, wie sehr sie sich angestrengt hatte. Sie hatte geputzt und gekellnert und geschneidert. Eine Weile auch Zeitungen ausgetragen. Sie hatte in einer Wäscherei gejobbt und für alte Leute eingekauft. Wenn sie nach Hause kam, schwankend vor Müdigkeit, saß sie mit ihrer Gitarre auf dem Boden und komponierte. An vier Abenden pro Woche traf sie sich mit ihrer Band zum Proben. Freitags und Samstags spielten sie meist irgendwo in der Provinz. Wenn es gut lief, bekam jeder fünfzig Euro am Ende.
Schließlich ging es nicht mehr. Als sie in den Keller ihrer Eltern zog, sagte die Mutter: „Hättest dir eben einen anständigen Beruf suchen sollen. Wo du wirklich arbeitest.“
„Ich arbeite hart.“
Die Mutter lächelte fein. Dieses Lächeln, das sagte: „Mich kannst du nicht für dumm verkaufen.“
„Ich arbeite härter als die meisten Angestellten! Und bekomme nicht mal Mindestlohn.“
Sie wusste selbst nicht, warum sie diese Debatte immer wieder führte. Ihre Mutter verstand sie nicht. Die meisten Leute verstanden sie nicht. Sie alle hielten sich für ungemein kulturell, wenn sie einmal im Monat ins Orgelkonzert in der Kirche gingen. Und am Ausgang, beim Spendentopf, da hatten sie es dann alle furchtbar eilig.
Vielleicht, denkt sie jetzt, wenn sie auf ihrer Matratze sitzt und komponiert, sollte sie alles hinwerfen und Lokführerin werden. Die werden gesucht und haben eine gute Lobby.

Perspektiven

Es ist ihr alles zu viel geworden. Das Leben bei den Schwiegereltern… der Mangel an Privatheit. Die ewig verletzten Gefühle und die ständig dräuende Gewitterstimmung. Die allgegenwärtige Schwiegermutter, die das Erziehen nicht lassen kann.
Eben, es war halb zehn, waren sich die beiden Frauen in der Küche begegnet. Sie, um sich einen Kaffee aufzusetzen. Die Ältere, um das Mittagessen vorzubereiten, wofür sie Möhren zurecht legte und sagte: „Jetzt übernimmst du.“
Und sie, bereits wieder auf dem Weg zur Tür, drehte sich um. Erwiderte: „Nein. Rainer wollte heut’ kochen. Außerdem ist es dazu noch viel zu früh.“
Die Schwiegermutter zog die Brauen hoch. „Du kochst. So weit kommt es noch, dass du deinen Mann die Arbeit machen lässt.“
Sie spürte, wie Magensäure in ihr aufstieg, es kribbelte bis in die Nase hinein. Lichtblitze zuckten vor ihren Augen. Sie schwankte leicht.
Ich muss hier raus, schoss es ihr durch den Sinn.
„Wohin willst du?“
„Fort. Dein Sohn hat zwei gesunde Hände, er kann gehen und stehen und er kocht genau genommen besser als wir beide zusammen. Wie es dazu kommen konnte, ist mir allerdings schleierhaft!“
Hinter ihr fliegt die Küchentüre ins Schloss. Die Zierväschen in der Flurvitrine tanzen. Ups.
„Komm sofort zurück“ gelt es aus der Küche.
Aber sie hört es nicht mehr. Zitternd flieht sie ins Badezimmer, kollabiert auf dem Schemel bei der Badewanne. Sie sieht die Flusen, die hier neuerdings nicht mehr aufgeputzt werden und die Schlieren, die früher weggewischt wurden. Sie weiß: Die Schwiegermutter ist einfach alt. Sie kann nicht mehr. Es ist ihr alles zu viel.
Aber ihre eigene Kraft ist auch am Ende und warum soll sie Verständnis aufbringen für eine Frau, die noch nie Verständnis für jemand anderen gezeigt hatte?
Backstage
„Noch zehn Minuten“, hallt eine Stimme durch den Gang. Dann wird die Türe aufgerissen, ein Kopf schaut herein, trötet: „Du bist die nächste.“ Dann rumst die Türe wieder zu.
„Mist…“
Sie ist noch nicht mal fertig umgezogen. Weiß selbst nicht, was heute los ist. Ihr fehlt jeglicher Schwung. Wobei: Der Schwung, er fehlt ihr nicht erst seit heute. Und eigentlich weiß sie auch sehr gut, was los ist. Ein wenig diffus, ja. Trotzdem weiß sie es.
Ihr Blick gleitet durch die ranzige kleine Garderobe des Provinztheaters – es scheint Lichtjahre her zu sein, seit sie zuletzt auf einer großen Bühne stand, seit ihr eine Garderobiere beim Umziehen half, sie sich den Weg zum Schminktisch durch Blumenbuketts bahnen musste. Ehe das alles losging.
Nun singt und tanzt sie im Nirgendwo. Überhaupt ein Wunder, dass die Kleinstadt noch ein Theater hat, es ist nicht mal schlecht besucht. Und an den meisten Abenden hat sie schließlich doch noch Freude daran: wenn das Grummeln verhaltenen Applauses zu ihr hereindringt. Dann rafft sie sich auf und ein Beben durchfährt sie. Ein Kribbeln ziept in den Fußspitzen und ihre Finger zucken.
„Komm schon, spiel noch mal. Nur dieses eine Mal noch“, murmelt sie, spricht sich Mut zu, Kraft.
Die Tür fliegt auf: „Jetzt. Los! Los!“


Zigarrenrauch
Sie liebt Zigarrenrauch. Wenn das schwere, holzige Aroma durch die Luft wabert, sich mit dem sonst vorherrschenden Duft von Jasmin und Vanille verbindet, weiß sie erst sicher, dass er wieder zuhause ist.
Zuhause. Sie schmunzelt leicht. Sie klingt ja schon wie das Mütterchen am Herd. Dies hier ist nicht sein Zuhause.
Doch es fühlt sich so an – jedes Mal, wenn sie seine Lederslipper aus dem Schrank holt und den Whiskey, den er so gerne trinkt. Wenn sie beim Restaurant um die Ecke Hirschpastete zum Dinner und Wachteleier zum Frühstück ordert. Und sein Zigarrendunst das Haus erfüllt.
Ausgesperrt
Rückblickend, und sie hat gerade viel Zeit zurückzublicken, ist ihr völlig klar, wie es dazu kommen musste.
Sie hing ihren Gedanken nach, hatte bloß schnell die Post und die neue Zeitung reinholen wollen, während die Kaffeemaschine warm wurde, dann könnte sie anschließend noch einmal mit der Zeitung und dem Kaffee ins schlafwarme Bett kriechen. Sie hatte sonst nichts zu tun heute.
Und so hatte sie bloß mal schnell, rückblickend immer ein schlechtes Zeichen, dieses „bloßmalschnell“, den Morgenmantel übergeworfen, war in die Pantöffelchen geschlüpft und zur Tür hinaus gefegt. Unten am Eingang hatte sie sich, um nicht ganz hinaus in die Kälte zu müssen, bloß mal schnell durch die offene Haustüre zum Briefkasten hinübergelehnt und durch den Schlitz nach der Post geangelt.
Erst als sie mit der Zeitung und den Briefen in der Hand wieder die Treppen erklomm und, wie immer, den Wohnungsschlüssel zücken wollte, hatte sie es bemerkt: Der Schlüssel fehlte. Er steckte, warm und gemütlich, drinnen im Schloss. Fassungslos hatte sie die Tür angestarrt. Sie wollte doch zurück ins Bett, mit ihrem Kaffee und der Zeitung.
Und so war sie schließlich, nachdem sie eine Weile anklagend das Schloss gemustert hatte und, vielleicht, gehofft hatte, es durch pure Geisteskraft zu öffnen, aufseufzend auf die oberste Stufe gesunken.
Rückblickend, so hatte sie gedacht, als sie sich auf dem kalten, harten Stein zurechtrutschte und die Zeitung entfaltete, rückblickend hätte sie wenigstens ein Kissen mitnehmen können, wenn sie sich schon aussperrte.
Nun wartet sie, ja, worauf eigentlich? Vielleicht auf ein Wunder…


Titania
Titania hat es schwer, manchmal. Ihre Welt ist die Nacht: Sie tanzt durch Wälder und Wiesen im Mondlicht, schwebt über Bäche und Berge dahin. Ihr Volk schwirrt um sie herum.
Dann nagt die Sonne am Horizont – ihr ewiger Widersacher. Es ist ihre Zeit zu regieren und Titania sucht einen Platz zu ruhen. Ihr Volk wuselt um sie herum. Es richtet ihr ein Lager aus Blüten und Daunen bis zur nächsten Nacht.
Mondschein ist herangekommen, taucht das Land in blassen Schein. Doch Titanias Volk hat sich fortgestohlen; es tanzt in die nächste Dämmerung.
Und Titania? Sie verlässt ihr Bett aus Rosen – nur ein Strauch voll Dornen bleibt zurück.
Spieleabend
Sie hat sich schön gemacht für ihn.
Vielleicht, so dachte sie, als sie behutsam die Nylons entrollte und den Spitzengürtel im Rücken einhakte, vielleicht brächte ihn das einmal wieder auf Gedanken. Früher war er ganz wild auf schwarze Spitze und Nylons.
Doch heute tätschelt er bloß noch ihre Wange, haucht einen Kuss hinterher. Dann sitzen sie am Boden, dort, wo sie früher anderes taten, und spielen Gesellschaftsspiele. Nächtelang.

Verantwortung

Sie war bereits auf dem Weg zur Feier gewesen, als sie der Anruf erreichte. Nur mal ganz kurz solle sie kommen, sie allein könne jetzt helfen.
Also wendet sie an der nächsten Kreuzung und fährt in die entgegen gesetzte Richtung.
Sie hätten einfach den Hausmeister anrufen können, flucht sie im Stillen, als sie an der dritten Ampel in Folge warten muss. Wenn sie die festsitzende Schraube schon selbst nicht lösen können. Aber klar: Der Hausmeister hat auch Wochenende und sie müssten ihn extra bezahlen. Da bitten meine Eltern lieber mich stattdessen.
Irgendwo hat sie mal einen Spruch gelesen. „Wer sich plagt, der erbt. Und wer erbt, der plagt sich.“ Oder so ähnlich.
Sie seufzt schwer, als sie den Blinker setzt, einen Blick über die Schulter wirft und in die Straße zum Haus einbiegt. Das ist wohl so mit dem Erben. Ihre Eltern jedenfalls sorgen dafür, dass sie sich das Ihre hart erarbeiten muss. Ein wenig zu laut fällt die Autotür ins Schloss.
Am Hauseingang wartet eine der alten Mieterinnen.
„Oh, gut, dass Sie endlich kommen. Ihre Mutter hat Sie längst angekündigt. Den ganzen Morgen haben wir schon kein Licht im Keller. Und bei dem elenden Regenwetter sieht man kaum noch die Hand vor Augen…“ Die alte Dame endet mit einem frustrierten Aufschnupfen.
„Schreckliches Wetter, nicht?“ Hoffentlich hält sie mich jetzt nicht wieder mit einer ihrer endlosen Tiraden auf, denkt sie gleichzeitig.
Doch sie hat Glück. Die alte Dame hat heute selbst zu tun. Kein Smalltalk nötig und auch kein verständnisvolles „Hm-hm“.
Schließlich hat sie die kaputte Glühbirne im Keller getauscht und kann nun, endlich, zur Hochzeit fahren.
Die Andere
Heute ist das Bild gekommen. Fertig gerahmt und ziemlich beeindruckend. Mittlerweile hängt es in der Nördlichen Galerie – direkt neben dem Portrait ihres Vaters. Sie findet den Gedanken noch immer sehr seltsam, dass sie nun selbst dort hängt.
Wie sich das schon anhört: „dass sie nun selbst dort hängt“. Als ob es an einem Baum wäre, denkt sie und verzieht den Mund.
Aber ein bisschen fühlt es sich auch so an. Final und sehr endgültig. Für Vater war es definitiv das Ende. Vor zwei Wochen haben sie ihn bestattet. Auch sie hat schlagartig mit ihrem bisherigen Leben abgeschlossen – sie lebt es nicht länger nur für sich selbst. Sie ist zur öffentlichen Person geworden.
Sich selbst hat sie ganz tief vergraben und, das sagt die Mutter zumindest sowie alle anderen auch, bald wird sich ihr neues Selbst ganz natürlich für sie anfühlen.
Darauf wartet sie nun. Voll Gottvertrauen - und Hoffnungslosigkeit.


Versprechen
Sie hat von diesem Tag geträumt… ach, seit sie ein kleines Mädchen war. Sie hat von Orgelklängen und Kirchenglocken, von Spitzen und Korsagen geträumt – und von dem Glück, dass sie anschließend erwarten würde.
Eine Weile hat sie sich gedulden müssen, sie musste sogar kämpfen. Denn ihren Wunsch schien niemand sonst zu verstehen.
Endlich hat sie sich durchgesetzt.
Nun braust die Orgel, der Altar schimmert im Sonnenlicht. Die Röcke wiegen schwer und die Korsage sticht. Der Schleier kitzelt an der Nase.
Ihre Stimme zittert, als sie schließlich spricht: „Ja, ich will. Ich will mich selbst lieben…
Abschied
Ganz leise ist sie aus ihrem eigenen Leben gegangen. Sie lässt niemanden zurück und auch sie wird niemanden vermissen. Nicht einmal sich selbst.
Sie hat einfach ihren Koffer gepackt, nur das nötigste hat sie hineingetan, und ist den halben Kilometer zum Bahnhof gewandert. Niemand hat grüßend die Hand gehoben und auch sie hat niemandem gewunken. Sie hatte nie geglaubt, dass sie so unwichtig sei, so völlig irrelevant.
Aus der nahen Kirche klingen Bachs Motetten herüber und auf dem Fluss tuckert ein Frachter vorbei. Es sind die Geräusche ihres Lebens, denkt sie jetzt. Sie hat sie ihr Leben lang gehört.
Sie sitzt am Gleis und wartet. Worauf nur? Darauf, dass jemand kommt und sie zurückhält? Dass ihr Leben endlich doch noch beginnt? Dass sie einen Hauch Verzweiflung spürt? Ach, nein, sie wartet bloß auf den 12-Uhr-Zug in die Stadt.

Das Schild

Die Wiese liegt an ihrem täglichen Weg. Der führt direkt an dem unhöflichen Schild vorbei, das seit vergangenem Frühjahr an einen rauen Holzpfahl genagelt ist. Auf dem Schild steht: Privatgrundstück! Unbefugten ist das Betreten und Befahren verboten!
Sie weiß, wem die Wiese gehört. Es ist ein miesepetriger Bursche, wer sonst würde auch solch ein Schild aufstellen. Im Sommer hat er sie mal erwischt, als sie im Schatten der alten Maronen schlummerte. Er lehnte aus dem Fenster seines Geländewagens und guckte böse. Sein Kopf strahlte tiefrot und an seiner Schläfe pochte eine dicke Ader.
„Können Sie das Schild nicht lesen?“, hatte er sie angeherrscht.
Inzwischen ist der Boden übersät mit herrlichen großen Esskastanien. Ein paarmal schon hat sie einige Handvoll in ihren Korb gelegt. Die Stacheln piksen in ihre Finger, selbst sie scheinen missgünstig und grantig zu sein.
Doch das hält sie nicht ab, in Gedanken backt sie bereits Kastanienbrot und füllt den Wildgansbraten. Sie kocht für ihr Leben gern.
„Sie schon wieder!“ Die polternde Stimme reißt sie aus ihrer Beschäftigung.
Da steht er in Jagdkleidung, über der Schulter hängt sein Gewehr. Ein Spaniel schnüffelt zu seinen Füßen im Gras.
Ein wenig schuldbewusst linst sie zu ihm auf, widerwillig greift sie nach dem Korb, will ihre Beute ausschütten.
„Entschuldigen Sie, bitte“, murmelt sie. „Ich mag Maronen so gern und ich wollte ein neues Rezept versuchen. Sie liegen hier einfach am Boden, ungenutzt. Das ist doch schade…“
Er knurrt jetzt. Doch die Ader an seiner Schläfe hämmert nicht mehr so besorgniserregend. „Na, nehmen Sie sie halt. Aber bloß dieses eine Mal.“ Es klingt wie ein Stoßseufzer. „Und heben Sie eine Portion für mich auf. Ich habe gehört, Sie kochen gut…“
Das Geschenk
Sie hatte zunächst abgelehnt, als ihre Freundin ihr die Studienreise „Antikes Griechenland“ schenkte.
„Das kann ich nicht annehmen“, hatte sie gesagt und Lilly den Umschlag über den Restauranttisch zurückgeschoben.
Lilly hatte die Hand daraufgelegt und die Rückreise ihres Geschenkes damit unterbunden.
„Doch“ hatte sie gesagt. „Du kannst. Und du wirst. Du liebst antike Geschichte und du hast dich viel zu lange vergraben. Seit - na, du weißt schon…“
„Ich hab zu tun!“
„Quatsch.“
Das war der Nachteil von alten Freunden. Sie sagten solche Sachen und entschuldigten sich nicht einmal dafür.
Sie hatte Lilly indigniert über das Zitronensoufflé à la Berger angesehen. Lilly hatte zurückgesehen und ihr den Umschlag hingehalten.
Das war vor drei Wochen.
Heute besichtigt sie mit ihrer Reisegruppe Mystras, atemlos und verzaubert trippelt sie durch seine Ruinen. Wenn bloß die Sonne nicht so schiene!
Da fühlt sie eine Berührung, Stoff gleitet über ihre Schultern, schirmt sie von der Sonne ab. Sie hört ein Murmeln hinter sich: „Nehmen Sie mein Jacket. Es wäre doch schade, wenn Sie einen Sonnenbrand bekämen…“
Und als sie sich umwendet, überrascht in graue Augen blickt, denkt sie: „Danke, Lilly, für dieses tolle Geschenk.“

Zwiesprache

„Lieber Gott, ich weiß nicht weiter. Hilf mir bitte, zeige mir den Weg, den du für mich vorgesehen hast. Was ist mein Platz und meine Aufgabe?
Ich dachte, ich hätte sie verstanden. Ich dachte, ich hätte meinen Platz gefunden. Ich dachte, ich kenne mein Ziel.
Aber nun wandere ich durch dichten Nebel, ohne Heim und ohne Grund. Ich habe Dich verloren und meinen Glauben an mich selbst.
Lieber Gott, was soll ich tun?“
„Sta’ tranquilla, cara mia“, hört sie es wispern. Bleibe ruhig, mein Schatz. Habe Vertrauen in mich, ich werde dich immer leiten, wie ich dich auch hierher geführt habe.
Und sie, sie lächelt still. Er ist ja da, er wird sie nie verlassen. Sie weiß noch immer nicht weiter, aber es beunruhigt sie nun weniger. Der Herr hat sie nicht vergessen.
Und so legt sie endlich ihren Schleier ab, erhebt sich von den Knien. Klar und stolz hallt ihre Stimme durch die stille Kirche: „Mi affido, Signore, totalmente alla tua volontà, delizia ed ornamento della mia anima.“*
*Ich vertraue mich an, Herr, völlig zu Deinem Willen, Freude und Zier meiner Seele.
Freiheit
„Ich will kurz Milch kaufen gehen“, hat sie zuhause gesagt. Und ist hinunter gerannt zum Strand, zum Meer.
Ohne innezuhalten streifte sie ihre Kleider ab, rannte einfach immer weiter bis die prickelnde Kälte nach ihren Beinen griff, ihr den Atem raubte. Dann ließ sie sich fallen. Klatschend traf ihr Körper eine besonders große Welle – sie teilte sich über ihrem Kopf, drückte sie Augenblicke unter Wasser.
Prustend taucht sie wieder auf, zähneklappernd und frierend.
Aber sie weiß: So geht es am Einfachsten. Und das Einfache gefällt ihr.
Deshalb sagt sie auch nicht, dass sie schwimmen gehen möchte; die ewigen Befürchtungen und Sorgen und Vorhaltungen der Verwandtschaft sind ihr lästig. Das Wundern der Tante, was sie bloß an dem kalten Wasser findet und die Ermahnungen der Mutter, Acht zu geben auf Strömungen und wilde Tiere. Die Schwestern, die über ihre Liebe zu körperlicher Anstrengung lachen. Der Vater, zum Glück, sagt nichts. Er brummt höchstens hinter der Zeitung hervor.
Sie liebt das Meer, das Schwimmen. Niemals sonst fühlt sie sich so völlig frei und losgelöst. Hier, im Wasser, glaubt sie alles sein zu können. Hier ist sie nicht die Jüngste in einer großen Familie, hier gibt es keine Erwartungen und keine Wünsche. Hier zählen nur sie und ihre Kraft.
Noch einige energische Züge, dann kehrt sie an Land zurück. Die Realität hat sie wieder: Sie muss noch Milch kaufen.


Für Elise
Dass hier und heute etwas gehörig aus dem Ruder gelaufen scheint, ist ihr klar. Deshalb steht sie starr, sprachlos, ringt um Fassung.
Doch ist es die Schmach, weil der Bräutigam nicht erschien? Oder aber ihr Gefühl der Erleichterung? Nicht einmal darüber ist sie sich sicher.
Schließlich sagt sie in die bedrückende Stille hinein: „Ich glaube, die Hochzeit findet nicht statt. Aber im Gasthaus nebenan steht die Torte. Die dürft ihr trotzdem essen…“
Die Gäste schütteln ihre Köpfe und raunen: „Die Ärmste. Sie hat es noch gar nicht richtig realisiert…“
Sie lächelt dazu.
Und während der DJ nebenan zum Hochzeitstanz aufspielt, der doch gar nicht stattfindet, und die Stimmung immer munterer wird, sitzt sie an der Orgel und spielt. Ave Maria erst. Ein wenig Bach dann. Und schließlich Für Elise. Sie spielt es für sich selbst: für Elise.
Heiligabend
Sie war lange nicht mehr in ihrer Heimatstadt. Eigentlich will sie auch jetzt nicht hier sein. Wäre es nach ihr gegangen, sie wäre ganz weit weg. Aber es gab da dieses Schreiben vom Notar und nun ist sie also hier. An Heiligabend.
Der Termin in der Kanzlei geht ruckzuck. Der Notar rappt den Vertrag herunter, reicht einen Kugelschreiber, verabschiedet sich mit einer Floskel. Wie im Zeitraffer.
Um wieder zu sich zu kommen, schlendert sie durch die eigentlich vertrauten Straßen. Doch sie sehen anders aus als damals, gepflegter, auch belebter. In den Geschäften tummeln sich letzte Einkäufer vor dem Fest. Sie erkennt niemanden. Und sie braucht auch für niemanden einzukaufen. Der Gedanke beruhigt und betrübt sie zugleich.
Dann kennt sie doch jemanden: An der Ecke zum Rathaus steht noch immer der Maroni-Mann. Seine Runzeln vertiefen sich, als er sie sieht, er lächelt. „Kindchen, dich habe ich ewig nicht gesehen…“

Abend zuhaus'

Gibt es etwas Schöneres, als sich des Abends im Ohrensessel einzurollen, ein Magazin auf den Knien und eine Kanne Tee auf dem Stövchen am Kamin? Ihr fällt nichts anderes ein, das es mit diesen Stunden aufnehmen könnte.
Gemütlich, denkt sie, ja, das ist es.
Ihre Mutter nannte es hyggelig, wenn sie sich daheim in Norwegen in einer stürmischen Nacht zusammen auf dem Sofa einrichteten, einige Kerzen entzündeten und hinaus in die Dunkelheit lauschten, ins Tosen von Wind und Brandung, ins Ächzen des Gebälks. Heiße Schokolade mit Schlagsahne und Lebkuchengewürz dampfte in dünnen Porzellanbechern und Oscar und Carl, die beiden munteren Grönlandhunde, waren nur als weiße Flecken in den Schatten bei der Haustür zu erahnen.
Hyggelig, denkt sie und lauscht den Silben hinterher.
Heute ist eine ganze Bewegung daraus geworden, der dänische Tourismusverband reibt sich zweifellos die Hände über diesen Coup. Sie schüttelt sich angewidert; ein wenig Tee schwappt aus der Tasse, rinnt über ihre Finger. Sie fängt ihn mit der Zunge auf.
Wie die Leute das aussprechen… Hügggge… Ihr wird immer ganz anders, wenn sie das hört.
„Lass sie doch“, sagt die Mutter am Telefon, „was bedeutet es schon, wenn sie es nicht aussprechen können. Gönn‘ ihnen doch das Gefühl, etwas Gutes für sich zu tun.“
Sie schnaubt dann. „Aber sie wissen nicht, was es bedeutet. Sie glauben, hygge sei, ein paar Wolldecken und Kerzen zu kaufen. Sie haben nie den Sturm gehört oder das Meer…“
„Du bist zu streng, mein Liebes. Hygge ist so viel mehr als ihre Wolldecken oder dein Sturm. Es meint auch, die Menschen sein zu lassen. Und das, mein Schatz, musst du noch lernen.“
Gute Bildung
„Ti-Ti-Tirililli“, durch’s Fenster dringt der Gesang eines Vögelchens. In der schäbigen kleinen Kellerwohnung jedoch ist es still, nur Lully dreht auf dem alten Plattenspieler knarzend seine Runden. Ihre Füße wippen den Takt dazu.
Niemand stört sie – Jean-Paul ist für heute gegangen. Zurück zu einem großen Leben und seiner ebenso großen Familie.
Sie mag ihn eigentlich nicht besonders, seinen Geruch nicht und seine Art noch weniger.
Aber wer fragt danach?
Das neue Rubinarmband ist schön und seit sie für sich selbst sorgen muss, hat sie ihre Prioritäten neu geordnet. Sympathien spielen in ihrem Leben nur noch eine untergeordnete Rolle.
Das stört sie nicht besonders, nein, das kann sie wirklich nicht sagen.
Sie führt ein gutes Leben und bald, wenn sie sich clever anstellt, wird sie auch die schäbige Kellerwohnung hinter sich gelassen haben. Ihr darf bloß kein Fehler unterlaufen. Aber, denkt sie, das wird es nicht.
Raschelnd wendet sie eine Buchseite; sie lacht leise. Welch ein Glück, dass sie schweigen kann…
„Ti-Ti-Tirililli“ singt das Vögelchen vor ihrem Fenster.


Wiedersehen
Sie hat sich aus dem Bett gestohlen, sich ihm, ganz vorsichtig, entzogen. Sein Hemd vom Boden aufgelesen und auf dem Weg hinaus übergestreift.
Nun lehnt sie am Balkongeländer, nippt am Wein, der längst schal geworden ist. Aus dem Nachbargarten klingt leise Jazzmusik zu ihr herüber. Über die Wiesen vor ihr tollen Kinder einem Drachen nach. Ein Schwarm Stare zieht vorbei, ihr Gekreisch hallt noch durch die spätnachmittägliche Stille, als die Vögel längst aus ihrem Blickfeld entschwunden sind.
Was tut sie hier nur? Sie kennt ihn doch kaum noch. Am Freitag sind sie sich nach Jahren wieder begegnet. Und dennoch ist sie übers Wochenende bei ihm geblieben. Fast fühlt es sich an wie zuhaus’.
Hinter ihr, im Schlafzimmer, rascheln Laken. Leises Tapsen. Dann legen sich zwei sehnige Arme um ihre Mitte, ziehen sie an sich. Große Hände kriechen unter ihr Hemd.
Eine raue Stimme murmelt an ihrem Ohr: „You’re sure looking good in my shirt…“
Premiere
Munter tanzt der Pinsel über ihre Haut. Tupft hier, streicht da. Tapp, tapp, tapp… Sie tänzelt zu seinem Takt. Summt leise vor sich hin.
Klopfen an der Tür. „Noch zehn Minuten, Lissi.“
Der Pinsel spielt die letzten Züge. Bronzer, Rouge. Fertig.
Sie lächelt. Sie strahlt. Sie singt aus voller Kehle. „Premierenfieber ist aufregend schön.“ *
* aus „Kiss me, Kate“


Der Umweg
Der Regen hat sie hereingeweht, in die kleine, hell erleuchtete Galerie fernab der Hauptstraße, auf dem Weg zu Dinnerdate und Theater. Sie kann nicht einmal sagen, wie sie auf ihrem hastigen Weg durch die Nässe, den Kopf leicht gesenkt, darauf aufmerksam geworden war.
Nun wandert sie von Bild zu Bild und staunt. Draußen prasselt Hagel gegen die Fensterscheiben. Gedämpftes Hupen klingt herein, von Gischtzischen unterlegt.
Ein Mann steht in einer Ecke und telefoniert. Mit der freien Hand nestelt er an einer Fotografie, verrückt sie ein wenig an der Wand, zieht sie gerade. Er lacht.
Seine leise Stimme scheint mit ihrem Innern zu resonieren. Neugierig blickt sie zu ihm hinüber, eben, als er das Telefon in die Gesäßtasche seiner Jeans schiebt. Ihr Mundwinkel hebt sich, seine schwarze Augenbraue zuckt. Nun lächelt auch er. Hält ihren Blick. Minuten scheinen zu verstreichen, dehnen sich zu Stunden.
Das Date ist vergessen und der Regen ebenso.
Sommerzeit
Sie ist wiedergekommen, an diesen Ort, an dem sie stets so glücklich war.
Das Schilf flüstert in einer sanften Brise. Im Gesträuch raschelt es – ein Rebhuhn bricht hervor und stürzt sich ins Gewässer, die Sonne glitzert auf seinem Gefieder. Am Himmel dreht gemächlich ein Habicht seine Runden und ein Reiher fliegt vorbei. Sie hört das Rauschen seiner Schwingen bis hierher.
Wie gut erinnert sie sich noch an die langen Nachmittage im Schatten eines gewaltigen Sonnenschirms, wenn die Mutter in den mitgebrachten Liegestuhl und einen Roman versank und sie selbst, hinter den Brüdern her, kreischend ins knietiefe Wasser lief.
Flach war es freilich nur ganz vorn, bald schon und viel zu schnell, reichten die sanften Wellen ihr bis zum Hals und während die Brüder, die viel älteren, lachend hinausschwammen, blieb sie in Ufernähe und bei Mutter zurück, sehnsüchtig die gepolsterten Ärmchen nach ihnen ausstreckend.
Später, als sie älter wurde, nahmen die Brüder sie mit zur kleinen Insel. Dort lag sie dann bäuchlings unter alten Weiden, schläfrig, und lauschte dem Geplauder der Jugens, die allmählich Männer wurden. Ihren Streichen und kleinen Lieben. Bis sie, einer nach dem anderen, diesen gemächlichen Sommertagen fernblieben. Sie waren fortgezogen, kamen nur noch sporadisch heim, nun selbst mit einer Schar lärmender Kinder.
Es waren jetzt nur noch sie und die Mutter, die gemeinsam im Schatten des gewaltigen Sonnenschirms lagen.
Bis auch die Mutter schließlich ging.
Nun sinkt raschelnd ihr Kleid hinab; mit kräftigen Zügen gleitet sie durchs Wasser. Drüben, auf der kleinen Insel liegt sie wieder im Schatten alter Weiden, bäuchlings. Wie von Fern dringt das Lachen junger Männer an ihr Ohr. Sie ist noch immer glücklich hier.

Das Kind liest

Wann ist ihr das Leben entglitten? Wobei: Hat sie es überhaupt je beherrscht? Sie kann es nicht sicher sagen.
Stattdessen sieht sie sich weinend auf der Schultoilette hocken, an der fahlgelben, eisglatten Wand hinabgerutscht und in der Ecke lehnend, in sich zusammengesunken. Die Arme um die angewinkelten Beine geschlungen. Sich vor und zurück wiegend. Zitternd. Die Stirn auf die Knie gestützt.
Warum bloß? Wenn sie das noch wüsste. Mitschüler vielleicht? Lehrer?
Ein Arzt, den sie später heimlich aufsuchte, da war sie schon viel älter, sah sie über den spinnenbeindünnen Rand seiner Brille an, drehte einen Füllfederhalter zwischen den langen Fingern und sagte nach einminütigem Interview: „Du bist missbraucht worden.“
Sie war empört. Dass das nicht stimmt – das wenigstens weiß sie genau.
Aber was ist es dann? Was ist es, das sie hindert, quält, verfolgt?
Sie geht zu keinem Arzt mehr seit jener einen Enttäuschung. Sie hat Wege gefunden, mit sich und den Fragen umzugehen. Der Teddy, ihr steter Gefährte, passt auf sie auf, wenn ihr Herz wieder rumpelt, die Fingerspitzen kribbeln und sie kaum noch atmen kann. Und wenn es gar nicht mehr geht, sie aus dem Fenster starrt und nicht mehr weiter weiß, sind da immer noch die Bücher und deren Geschichten. Sie retten sie. Bislang noch jedes Mal.
Die Antwort
Oben am Hügel, im großen Haus, rauscht das Fest. Die Musik klingt durch die geöffneten Verandatüren bis zu ihr hinab.
Sie sieht sie vor sich: Die Damen in ihren bodenlangen Kleidern, die Rücken und Arme frei, die Hälse und Ohren mit Schmuck behangen.
Die Herren in dunklen Smokings. Schwarze Schuhe, gewienert, dass sie spiegeln, schliddern in geschmeidigen Drehungen über das Parkett, verlassen dabei kaum je den Boden.
Sie hört, wie die Musikanten jetzt den alten Gassenhauer „Faszination“ anstimmen, kurz zucken ihre Füße auf dem Weg zu den Stallungen. Eins, zwei, drei… eins, zwei… Sie lächelt schwach.
Sollen sie sich amüsieren, sie gönnt es ihnen. Doch, sie, sie hat sich davongestohlen. Feiern, viele Menschen, das verunsichert sie.
Vor allem, wenn ER unter ihnen weilt, mit seinen glitzernden Augen unter müden Lidern, dem sardonischen Lächeln, extra gekommen, um sie zu sehen. Er will endlich eine Antwort haben.
Morgen. Morgen wird sie ihm entgegentreten. Vielleicht weiß sie bis dahin auch, was sie sagen soll.

Essenszeit

„Wir sollten uns ein wenig gesünder ernähren.“
„Hm?“
Er sieht kaum von der Zeitung auf, hinter der er schon den ganzen Abend verschwunden ist. Gelegentlich rascheln die Seiten, wenn er umblättert, oder er grunzt abfällig, wenn ihn etwas ärgert, das sie schreiben.
Sie wirft ihm hinter seiner Barrikade, die sich über seinem stattlichen Bauch aufbaut, einen langen Blick zu. Sinnend. Ein wenig frustriert. Hat sie sich die Ehe so vorgestellt? Nein, sicherlich nicht.
Aber, überlegt sie, während die Blätter wieder rascheln und ihr Mann über Sportergebnisse brummt, eigentlich konnte sie nichts anderes erwarten. Was hat man sich nach 15 Jahren noch zu erzählen? Wenn alle Geheimnisse entdeckt und alle Überraschungen aufgebraucht sind.
Sie hat es bei ihren Großeltern gesehen. Bei ihren Eltern.
Und ihre Freundin klagt, ihr Mann mache Überstunden mit der technischen Angestellten. Da kann ich froh sein, dass meiner sich bloß für die Zeitung interessiert, denkt sie.
In der Küche greift sie nach dem neuen Kochbuch, blättert. Eierspeisen. Salat. Sie seufzt. Appetit hat sie auf nichts davon. Aber es geht ihr nicht um sich.
Es geht um ihn, seinen dicken Bauch und den Diabetes.
Und darum, dass sie ihn noch immer liebt. Auch nach 15 Jahren noch.
Kaffee für einen
Es ist wieder so weit. Auf den Tag sieben Jahre ist sie nun allein. Vor sieben Jahren ging er morgens fort und kam abends nicht mehr zurück. Es war sein Geburtstag.
Sieben lange Jahre, in denen sie auf ihn gewartet hat. Obwohl sie es besser wusste.
Sieben Jahre, in denen ihre Freunde sagten, sie müsse neu beginnen. Und sie hat neu begonnen. Irgendwie zumindest.
Heute hat sie noch einmal den Tisch für zwei gedeckt, die Geburtstagstafel, mit den Törtchen, die er am liebsten aß. Noch einmal hat sie sich das Kleid angezogen, das er stets so mochte, und das Perlenhalsband angelegt, das er ihr zur Hochzeit schenkte.
Noch einmal sitzt sie allein am Tisch. Plaudert mit sich selbst.
Allein? Nein.
Ganz deutlich sieht sie ihn dort sitzen, in einem seiner Flanellhemden, die schwarzen Haare leicht zerzaust, so wie früher. Sie hört auch seine Antworten. Seine raue, nuschelnde Stimme. Die langen Pausen zwischen den Sätzen. Das langgezogene Ende der Sätze.
„Du fehlst mir so“, flüstert sie. Ihre Augen schwimmen in ungeweinten Tränen.
„Aber ich bin doch hier“, hört sie ihn sagen. „Ich bin doch immer bei dir. Das weißt d-“
Die Türklingel unterbricht ihn, reißt sie aus ihrer Fantasie. Verständnislos starrt sie auf seinen leeren Platz. Das saubere Geschirr. Die unangetasteten Törtchen. Seine Lieblingstörtchen.
Dann fällt es ihr wieder ein: Sie ist ja allein. Seit sieben Jahren schon. Im Flur schrillt wieder die Klingel. Langsam schiebt sie den Stuhl zurück, steht mühsam auf. Streicht mit plötzlich zitternden Fingern ihr Kleid glatt, wirft einen Blick in den Spiegel.
Während sie hinausgeht, murmelt sie und ihre Stimme bricht: „Nicht mehr, weißt du. Ich bin nicht mehr allein. Ich musste schließlich irgendwann ohne dich weitermachen…“

Mittagszeit

Sie ist so glücklich. In ihrem Magen brabbeln und brodeln hunderttausende kleiner Bläschen.
„So muss sich eine Champagnerflasche fühlen“, denkt sie und lacht hell auf. Was für eine absurde Idee! Als ob eine Champagnerflasche sich irgendwie fühlen könnte.
Ihr Lachen klingt durch die Luft, über die Felder, scheint von den Weinbergen in der Ferne widerzuhallen.
Ein Kälblein auf dem angrenzenden Feld hört es und startet ein paar staksige Galoppsprünge. Im Himmel stürzt sich eine Schwalbe in eine Reihe Saltos. In den Bergen tuckert ein Traktor über Feldwege.
Sie nuckelt an ihrem Pinsel, wedelt gedankenverloren mit der Farbpalette, lässt ihren Blick über die bunten Kleckse und verschwommenen Formen auf der Leinwand streifen. Ihr gefällt, was sie gemalt hat, ja.
Dann blickt sie durch die vielen Schichten schnell getrockneten Acryls hindurch, durch die fast wolkenlose feuchtwarme Luft, durch die Weinberge am Horizont, hinein in sich selbst. Sie holt tief, ganz tief Luft, leicht zittrig und bis sich ihre Lungen ganz aufblähen.
Sie sieht neue Aufgaben und ungeahnte Abenteuer auf sich zukommen, fühlt das Bitzeln und Brodeln froher Erwartung in ihrem Innern.
Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. Ohhh… Sie ist so glücklich heut’.
Reihe 23
Sie wartet. Seit 2 Uhr wartet sie schon, doch noch keine Spur von Hieronymus. Sie blickt zu ihrer Uhr am Handgelenk: Fünf nach Drei. Sie schluckt schwer.
Ihre Blicke verfolgen, wie die Sonne aufgeht und ihren Weg über den Himmel zieht und Autos, die über den riesigen Parkplatz rollen. Sie soll nach einem schwarzen Nissan Ausschau halten, hat man ihr gesagt. Aber es kommt kein Nissan, weder Schwarz noch Weiß. Unbewusst ballt sie die freie Hand zur Faust.
Menschen wandern an ihr vorbei, braun gebrannt und mit Koffern in der Hand. Manche sehen müde aus, andere plaudern fröhlich mit dem Smartphone. Argwöhnisch mustert sie jeden hinter ihrer großen Sonnenbrille hervor – sind das SIE, die sie beschatten? Ihr Magen knurrt. Wo bleibt Hieronymus?
19:40 Uhr.
Ungeduldig tippt sie mit der Fußspitze auf den Asphalt, bohrt den Hacken in eine Delle im Gestein. Am Himmel ballen sich Gewitterwolken. In der Ferne blitzt es bereits, leiser Donner hallt von den Bergen wider. Nur mühsam unterdrückt sie ein Gähnen.
Ein weiterer gequälter Blick zur Uhr: 20:01. Wo bleibt er bloß?
Der Koffer in ihrer Hand, den sie nie loslässt, mit ihrem Leben wird sie ihn verteidigen, scheint schwerer geworden. In ihrem Innern glaubt sie zu brennen. Was soll sie tun? Weiter warten? Oder selbst verschwinden? Gefährdet sie das Unternehmen damit? Das Unternehmen, das doch so wichtig ist für sie, die anderen, den Lauf der Welt? Kurz schließt sie die Augen, verlagert ihr Gewicht, schwankt. Sie kann nicht mehr.
23 Uhr. Wo bleibt nur Hieronymus?
Er wird nicht kommen – er kann es nicht. Er starb heute, um Zwei Uhr Drei. Doch als ihr das klar wird, ist es zu spät.

Wenn sie tanzt

Jahr um Jahr überrascht sie der Sommer.
Eben saß sie noch, eingehüllt in Felle und Decken, an ihrem Feuer, lauschte dem Knistern des Sturms im Gebälk und dem Heulen des Kessels über den Flammen. Kaum je setzte sie einen Fuß vor die Tür.
Nun spielen sich ihre Tage draußen ab. Ihre Wanderungen führen sie tief in die Wälder um ihr Heim, sie mag sich kaum sattsehen an den tiefen Grüntönen der Eichen und Birken. Und satthören, wenn deren Blätter im Wind flüstern. Auf einer Lichtung blickt sie an den Wipfeln vorbei bis hinauf in den weißblauen Himmel, ein Falke kreist stumm darin.
Hier und dort bleibt sie stehen, bückt sich. Zupft zärtlich eine Blüte, ein Gras von seinem Stängel. „Verzeih mir“, wispert sie, und ihre Fingerspitzen fliegen über die Pflanze am Boden. „Gönn’ mir nur dies‘ eine für meinen Strauß. Sieh’ her“, und sie streckt ihre Sammlung aus, präsentiert sie der Natur in beiden Armen, wie ein Neugeborenes.
Wenn ihre müden Füße nach den langen Ausflügen brennen, steigt sie in den Fluss, kühlt sie, tröstet sie. Sie spürt die Strömung ihre Zehen massieren, Wellen um ihre Waden planschen. Das leise Gurgeln des Stroms mischt sich unter das Keckern und Zirpen der Vögel im Gebüsch.
Sie schließt die Augen, horcht dem Trällern, Summen und Platschen. Hebt die Arme in den Himmel und wiegt sich sanft im Spiel des Windes. Eine Hummel brummt heran und landet in ihrem Strauß aus Wildblumen.
Und dann, dann weiß sie es ganz sicher: Es ist wieder Sommer.
Gegen die Zeit
Sie läuft. Sie rennt. Zum Bahnhof!
Er fährt doch gleich. Und sie muss ihn so dringend erreichen.
Er verlässt die Stadt, vielleicht für immer. Wenn sie es bloß sicher wüsste.
Seit vier Tagen hadert sie mit sich. Da hatte sie seine Türe hinter sich ins Schloss geworfen. Bis hinunter ins Foyer war der Knall zu hören gewesen und sie war selbst zusammengezuckt. Fast hätte sie noch einmal geklingelt und sich entschuldigt für den Lärm.
Aber daran war nicht zu denken. Nicht nach allem, was zwischen ihnen gesagt worden war.
Und nun ist Schluss – in der Presse stand es zumindest so zu lesen.
Wollte sie das? Nein. Sie hatte es nie gewollt. Gesagt, vielleicht. Aber was sagte sie nicht alles im Streit und meinte es doch nie so.
Und warum der Streit? Sie weiß es selbst nicht mehr.
Nun hastet sie durch die Straßen, hört kaum das wütende Hupen der Autos, die sie zum Bremsen zwingt. Sie muss die Bahn erreichen, muss ihn noch einmal sehen. Muss sagen, wie leid es ihr tut und dass er zurückkommen soll.

On the Road

Sie kann nicht mehr.
Das Leben im Tour-Bus, nein, nicht der glamouröse Nightliner, sondern der klapprige, asthmatisch röchelnde T4. Die fürchterlichen Spelunken. Das Pay-to-Play.
Selbst dort, in diesen piefigen Jugendhäusern, wo das Bier mehr kostet, als ihr Stundenlohn aus den zehn verkauften Tickets. Selbst dort wollen sie bezahlt werden von ihr, dafür, dass sie einen Abend Unterhaltung bietet.
Unterhaltung, hinter der ein Lebenswerk steckt.
Eine Stimme, soulig, brüchig, anschmiegsam. Dazu eine Gitarre, echt verstärkt und mit Mikrofon abgenommen. Richtige Songs aus Refrain, Strophe, Refrain, Strophe, Bridge, Refrain.
Kein aus Versatzstücken großer Kunst zusammengeklauter Elektrobeat wie bei The Weekend. Kein Autotune-Geheule wie bei den Deutsch-Rappern. Kein Einakkord-Lamento wie bei Billie Eilish. Und kein Mummenschanz wie bei Ghost.
Das hat sie gestern auch dem Leiter des Jugendclubs gesagt, als er 300 Euro wollte am Ende des Abends.
„Unkostenbeitrag“, nannte er es. Weil ja nur zwei Leute überhaupt gekommen waren.
Die waren alt, hielten sich an einem Bier fest und sagten hinterher, wie mutig sie es fänden, dass so ein junges Ding noch richtige Musik mache.
Und der Bursche vom Jugendhaus?
Der sagte bloß: „Was willst du? Du hast keinen Social-Media-Auftritt und kein Live-Konzept. Du trittst hier einfach in deinem Kleidchen auf. Wer will das sehen? Niemand interessiert sich für dich. Du kannst genauso gut auch gleich aufhören.“
Und genau das hat sie getan. Aufgehört.
Es war nicht leicht: Sie hat schließlich nie etwas anderes gemacht als Musik, nie etwas anderes gewollt, als mit ihren Songs auf der Bühne zu stehen, ihre Kunst darzubieten und sich dabei bis zur Erschöpfung zu verausgaben.
Seit sie hingeworfen hat, geht sie einfach immer weiter, wie in Trance, mechanisch. Vielleicht wird sie irgendwo ankommen – und vielleicht hat sie dann sogar eine Idee, was sie künftig tun wird. Auf gar keinen Fall mehr Musik.
Das ist das einzige, was sie weiß.
Der Brief
Liebster, heute las ich in der Zeitung von deiner Rede. Sie lobten sie sehr und sprachen von deinem Talent und deiner Moral.
Drei Stunden, so hieß es, habest du völlig frei referiert, du hättest euch gut verteidigt und selbst in der Opposition hätte man anschließend lange geklatscht. Ich bin stolz auf dich.
Hier geht das Leben seinen täglichen Lauf, die älteste Radewitz'sche Tochter hat vor einem Monat geheiratet und der junge von Treppow ist zum Studium nach Berlin gezogen.
Minka hat schon wieder geworfen, das dritte Mal, seit du fort bist; ich weiß nicht mehr, was wir mit den ganzen Kätzchen anfangen werden.
Morgen soll der Dachdecker die losen Schindeln austauschen, die der Sturm letzte Woche auf dem Gewissen hat.
Weißt du, ich kann mich nicht über deine Rede beruhigen. Es ist wunderbar, wie du all die Zeit so frei gesprochen hast, das konntest du schon früher gut. Aber mir will deine Einstellung nicht gefallen. Du scheinst so sehr wie alle anderen geworden zu sein und darauf haben wir uns doch immer so viel eingebildet, nicht wahr? Anders zu sein, als alle anderen.
Aber wahrscheinlich hast du dich noch viel mehr verändert, ich weiß bloß nichts davon. Alles verändert sich anscheinend. Bloß ich, ich bleibe immer ganz die alte.
Und so ändert sich auch meine Liebe zu dir nicht, hat sich nie geändert. Und das ist doch alles, was ich auch dieses Mal sagen wollte: Ich liebe dich und ich bin stolz auf dich.
Der Postbote kommt gleich durch, wenn ich könnte, ich würde ihm diesen Brief mitgeben.
Aber ich weiß nicht, wohin soll ich ihn adressieren? Und wenn er dich fände, würdest du ihn überhaupt lesen? Oder wärest du genervt, weil ich nach all den Jahren Trennung noch immer an dir hänge?
Ich werde den Brief wohl einfach wieder verbrennen, wie alle übrigen vorher…


Die Traumtänzerin
"Ich will tanzen" , hatte sie gesagt, schon als junges Mädchen, wenn man sie fragte, was sie einmal werden wolle. Tänzerin.
Und sie hatte getanzt. Jede freie Minute des Tages, wenn sie nicht in der Schule saß oder schlafen musste. Sie tanzte. Und tanzte. Und sie war gut.
"Du musst doch mal was Anständiges machen" , sagte die Mutter und der Vater nickte dazu. Also hat sie was anständiges gemacht, hat studiert.
Heute arbeitet sie in einer großen Firma, leitet ein großes Team, verdient große Summen. Ihr Tag hat zu wenig Stunden und ihre Woche zu wenig Tage. Ihre Mutter ist stolz auf sie und der Vater nickt dazu.
Sie tanzt auch noch. Wenn sie nachts nicht schlafen kann, und das passiert oft, zieht sie ihr Kostümchen an, richtet ein paar Scheinwerfer auf sich selbst und tanzt. In ihrer Waschküche.
Eine rauschende Ballnacht
Sie sagen, sie habe sie umgebracht. Seit drei Tagen versuchen sie, es aus ihr herauszubringen.
Sie sagen, sie wäre eifersüchtig gewesen. Weil sie sie mit ihrem Mann gesehen hätte.
Sie sagen, sie hätte mit dem Mord ihr Auskommen sichern wollen. Weil ihr Mann sie sonst für die andere verlassen hätte.
Sie sagen, sie habe sich in ihr Vertrauen geschlichen. Weil sie sie dann leichter töten konnte.
Seit drei Tagen reden sie auf sie ein. Seit drei Tagen versuchen sie, sie zu einer Aussage zu bewegen. Sie schweigt. Nicht erst seit drei Tagen.
Denn wenn sie einmal anfangen würde – sie würde nicht mehr aufhören zu erzählen. Sie würde Dinge berichten, von denen sie keine Vorstellung haben. Sie würde Geständnisse ablegen, für Taten, derer sie nie bezichtigt wurde.
Hat sie sie umgebracht? Natürlich. Sie und viele andere.
War sie eifersüchtig? Nein.
Ihr Mann würde sie nie verlassen. Er kann es gar nicht. Sie würde sonst zu reden beginnen.

Die Angeklagte

Sie sagen, sie habe sie umgebracht. Seit drei Tagen versuchen sie, es aus ihr herauszubringen.
Sie sagen, sie wäre eifersüchtig gewesen. Weil sie sie mit ihrem Mann gesehen hätte.
Sie sagen, sie hätte mit dem Mord ihr Auskommen sichern wollen. Weil ihr Mann sie sonst für die andere verlassen hätte.
Sie sagen, sie habe sich in ihr Vertrauen geschlichen. Weil sie sie dann leichter töten konnte.
Seit drei Tagen reden sie auf sie ein. Seit drei Tagen versuchen sie, sie zu einer Aussage zu bewegen. Sie schweigt. Nicht erst seit drei Tagen.
Denn wenn sie einmal anfangen würde – sie würde nicht mehr aufhören zu erzählen. Sie würde Dinge berichten, von denen sie keine Vorstellung haben. Sie würde Geständnisse ablegen, für Taten, derer sie nie bezichtigt wurde.
Hat sie sie umgebracht? Natürlich. Sie und viele andere.
War sie eifersüchtig? Nein.
Ihr Mann würde sie nie verlassen. Er kann es gar nicht. Sie würde sonst zu reden beginnen.
Trost im Wein
Die Tage sind leicht auszuhalten. Auch abends noch fühlt sie sich recht wohl.
Doch wenn die Nacht kommt, die kriechenden Schatten und ihre geflüsterten Gespräche, die Stille, die den Raum schließlich zum Schweigen bringt, dann fühlt sie wieder die Unruhe in sich, spürt die Erinnerung zurückkehren und sich wie Nebel, der alles verschlingt, über ihr Gemüt breiten.
Die Trauer ist dann ihr fester Begleiter. Sie verharrt in den Falten der schweren Gardinen und lungert unter den Möbeln.
Und wenn die Mitternacht heranrückt, ist es schließlich kaum noch zu ertragen. Dann drängen die Geister vergangener Tage mit aller Macht auf sie ein.
Und nachdem sie so lange ausgehalten hat, gibt sie nach, sinkt in sich zusammen und greift nach einer neuen Flasche Wein.
Vielleicht kann die ihr helfen…

Am Ende

Es war wieder einmal so weit: Sie war noch nicht lange zu Bett gegangen, da schrillte das Telefon durch die friedliche Stille des schlafenden Hauses.
Als Louise kurz darauf an der Schlafzimmertür klopfte, griff Helene-Sophie bereits nach ihrer Handtasche.
„Das Krankenhaus hat wieder angerufen, Frau von Thane. Sie sagen, das könnte es jetzt gewesen sein.“
An der Haustür reichte sie Helene-Sophie die Aktentasche und meldete: „Peter hat den Wagen vorgefahren. Sie können gleich los.“
Sieben Stunden war das her. Sieben Stunden, in denen sie an seinem Bett saß, seine schweißige Hand mit der ihren umklammerte, ununterbrochen zu ihm redete. Ob er sie hörte? Nichts deutete darauf hin.
Schließlich sprach Helene-Sophie über die letzten Geschäftsabschlüsse – das hatte ihn immer interessiert.
Und falls er sie doch hörte: Nun, dann wusste er wenigstens, dass sie seine Firma erfolgreich weiterführte. Das hatte er stets bezweifelt. Vielleicht gab es ihm den Frieden, den er brauchte.
Wieder keine Reaktion.
Sie hatte ihn schließlich auf die gelbliche, heiße Stirn geküsst, war zum Auto zurückgekehrt. Peter schlief auf dem Fahrersitz. Er schreckte auf, als sie in den Fond glitt.
Auf seinen fragenden Blick im Rückspiegel, schüttelte Helene-Sophie den Kopf. Dann vertiefte sie sich in der heutigen Präsentation.
Zehn Minuten später klingelte das Telefon. Eine Stimme sagte: „Guten Morgen, Frau von Thane. Doktor Mertens hier. Ihr Bruder ist vor etwa fünf Minuten verschieden.“
Zurück nach Haus'
Es sind die Ländereien ihrer Kindheit, Zuhause. Oh, wie gut sie sich erinnert. Dies war die Hundert-Ar-Wiese – ihr Vater ließ hier im Sommer die Jungpferde weiden.
Das ist lange her, inzwischen sind die Pferde verkauft und der alte Hof ebenfalls.
Sie ist in die Stadt gezogen, damals. Weg von Daheim und den Erinnerungen.
Und nun ist es die Erinnerung, die sie wieder nach Hause gebracht hat, zurück zu ihm.
Es war alles so schnell gegangen, der Verkauf und ihre Liebe; sie war zu jung und fühlte sich um ihre Zukunft gebracht.
Als sie ging, stand er mit überkreuzten Armen im Türrahmen und knurrte:
„Ich werde nicht auf dich warten.“
Sie hatte einen Pulli in den Koffer gestopft und gezischt: „Du sollst auch nicht auf mich warten. Ich werde dich und das alles hier so schnell wie möglich vergessen.“
Aber er hatte gewartet und sie hatte ihn nicht vergessen, obwohl sie es wirklich versuchte.
Und eines Tages war sie hierher zurück gekommen.
Sie hatte auf der Wiese gestanden, wie so oft, und die Abenddämmerung über die Hügel schleichen sehen. Von fern hörte sie das dumpfe Trommeln von Hufen auf dem gefrorenen Grund. Er galoppierte immer an dieser Stelle.
Und als er vor ihr bremste, scharf den Zügel anzog und sich tief in die Steigbügel lehnte, murmelte sie und wagte nicht, zu ihm aufzusehen: „Ich bin zurück…“

Ende der Party

Die Party ist vorüber. Jetzt geht es ans Reste aufkehren; es gibt immer irgendwelche Reste.
Sie gehört auch dazu, denkt der Butler und schüttelt den Kopf, als er das Mädchen am Boden liegen sieht.
Er versteht nicht, dass der junge Herr sie immer wieder einlädt – wo sie doch jedesmal bald genug zusammenbricht. Schön anzusehen mag sie ja sein, hübsche Beine hat sie, das stimmt.
Aber Benehmen, das fehlt ihr.
Welches wohlerzogene Frauenzimmer würde so viel trinken, ach was, saufen, denkt er grimmig, dass es bewusstlos wird?
Jaja, die Zeiten haben sich geändert, heute dürfen Frauen sich wie Männer benehmen, anscheinend glauben manche von ihnen sogar, welche zu sein.
Das hat er zumindest gehört, aber vielleicht stimmt das auch gar nicht. Bestimmt sogar. Warum sollten sie das schließlich tun? Man sieht doch, wo das hinführt bei der Kleinen hier.
Wahrscheinlich ist er einfach zu alt für das alles, denkt er nun und seufzt.
Fridolin, den man früher Lakai nannte und heute Personal Assistant, breitet eine Decke über die Bewusstlose. Das macht er jedes Mal.
Manchmal, beschließt der Butler, bedeutet Reste aufzukehren eben einfach den Mantel des Schweigens darüber zu breiten. Er wendet sich ab. Es gibt noch genug zu tun.
Eheleben
Seit Wochen schon hat ihr Mann eine Geliebte, da ist sich Mimi sicher. Warum sonst verbringt er so wenig Zeit mit ihr?
An den Abenden macht er Überstunden: „Entschuldige, mein Schatz, wir haben aktuell unglaublich viel zu tun.“
Selbst an den Wochenenden steigt er nach dem Frühstück ins Auto und fährt in die Firma, sagt er zumindest: „Liebling, es tut mir leid, bei uns ist einfach die Hölle los. Es wird wieder besser, versprochen.“
Dann ist er weg.
Spät abends erst kommt er wieder, wenn Mimi schon lange im Bett liegt. Er riecht frisch geduscht und sagt, er sei furchtbar müd’.
Erst hat sie ihm geglaubt. Wollte glauben.
Dann kamen ihr die vielen Kosenamen suspekt vor. Er hat sie nie so genannt. Dann das viele Duschen – warum sollte er das tun, außer, um ihren Geruch abzuwaschen?
Heute hat’s ihr gereicht. Da ist sie ihm gefolgt. Natürlich nicht zur Firma. Eine alte Villa am Stadtrand. Container stehen in der langen Auffahrt, ein Schild baumelt am Tor: „Baustelle“.
Sie sieht keine Frau, keine Geliebte. Nur ihren Mann und seine Freunde in Arbeitskleidung. Sie hört sie reden: „Gleich liefern sie die Badewanne.“ – „Die mit den Löwenfüßen? Eine einfache ging wohl nicht?“ – „Nein. Mimi liebt solche Wannen.“
Sie kommt sich jetzt unglaublich dumm vor.


Alte Liebe
Wie lange ist es her? Sie kann sich nicht mehr erinnern. Auch nicht, wie es dazu kam. Eigentlich weiß sie gar nichts mehr. Sie steht ganz still, festgefroren im Moment und starrt auf das Flussschiff an der Quay-Mauer.
Sie sieht ihn wieder vor sich, seine Augen, wie er sie beim Lachen zusammenkniff. Dahinter Himmel, Wasser, gleißendes Licht. Hört das Tschok-Tschok-Tschok jenes Dieselmotors und den Schrei einer Möwe. Erinnert sich, wie alles zurückwich vor seinem Lachen. Eigentlich ist es bloß das Lachen, an das sie sich erinnert.
Dieses Lachen… wie sehr vermisst sie es.
Das Schiff legt ab, sie drehen die Musik lauter. In das Tschok-Tschok-Tschok des Dieselmotors mischt sich Gesang: „Esgourdez rien qu′un instant/ La goualante du pauvre Jean…“ *
*Hören Sie nur für einen Moment / Das traurige Lied des armen Jean…