- Bérénice Schneider
- 1. Apr. 2023
Das Haus, in dem ich groß geworden bin, ist rund 300 Jahre alt. Es hat viele Räume und noch viel mehr Türen. Als Kind ließ ich diese Türen häufig offen stehen, wenn ich in ein Zimmer kam – meine Mutter fragte dann: „Haben wir eigentlich Teppiche vor den Türen, Muckelchen?“
„Warum Teppiche?“, fragte ich.
Damals verstand ich nicht, dass ein Teppich, wie ein Vorhang, von selbst wieder zufällt. Er schließt den Durchgang, wie es die Türe tut, die du hinter dir zuziehst. Das ist vor allem im kühlen Klima des Nordens und in einem akut kalten und zugigen Haus ein Thema. Wie gesagt, als Heranwachsende verstand ich diesen energetischen Gesichtspunkt nicht. Ich begriff bloß, dass ich die Türe hinter mir schließen sollte und gewöhnte es mir an. Künftig zog ich jede Tür, die ich benutzte, zu.
Inzwischen bin ich flexibler geworden. Ich habe entdeckt, dass es in heißen Sommernächten, in denen es kaum abkühlt, durchaus sinnig sein kann, für Durchzug zu sorgen. Und in unserer wohl temperierten Stuttgarter Etagenwohnung, in denen die Nachbarn im Winter alle heizen, und das Thermometer bei uns nie unter 20 Grad sinkt, stehen die Türen fast ständig offen.
In unserem Mehrfamilienhaus wohnen anscheinend Menschen, die wirklich zu glauben scheinen, dass wir Teppiche vor den Türen haben. Zumindest stehen die Haus- und die Kellertüre regelmäßig offen.
Der Spruch meiner Mutter hat sich mir dennoch eingeprägt und er fällt mir regelmäßig ein, wenn wir wieder in Stuttgart sind. Denn in unserem Mehrfamilienhaus wohnen anscheinend Menschen, die wirklich zu glauben scheinen, dass wir Teppiche vor den Türen haben. Zumindest stehen die Haus- und die Kellertüre, mal abwechselnd, mal simultan, regelmäßig offen. Sie werden sogar fixiert, mit eingeklemmten Besen oder Holzpflöckchen, damit sie sperrangelweit offen stehen.
Ich weiß nicht, wer dieser Frischluft-Fanatiker bei uns im Haus ist, meine Umfragen zu diesem Thema haben mich nicht weitergebracht. Jeder, absolut jeder streitet ab, es zu sein. Es ist wie mit dem Klopfen in diesem Haus: Jeder hört es, aber keiner verursacht es. Wer immer es ist, er denkt zumindest daran, seine eigene Wohnungstüre zu schließen. Ganz so weit kann es also mit seiner oder ihrer Frischluftliebe dann doch nicht her sein.
Also bin ich zu meiner Mutter mutiert und schließe die entsprechenden Türen, wann immer ich sie geöffnet vorfinde. Als wir bei unseren Besuchen in Stuttgart immer wieder fragwürdig aussehende Personen um die Häuser streichen sahen und schließlich letzten Herbst im Nebeneingang eingebrochen wurde, reichte es mir.
Ich besuchte noch einmal alle in Frage kommenden Nachbarn, es ist mittlerweile genau genommen nur eine Familie, da alle anderen kürzer hier wohnen als dieses Phänomen auftritt, und bat sie noch einmal, doch bitte zumindest die Haustür zu schließen.
„Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich lege keinen Wert darauf, dass meine Wohnung ausgeräumt wird“, sagte ich.
Der Nachbar, ein an sich sehr netter Mensch, mit dem wir uns gut verstehen, stimmte zu und meinte, unbedingt, schließlich müsse er ja auch für seine zwei kleinen Töchter sorgen, die nachmittags allein zu Hause wären. Das wäre ihm viel zu riskant. Er wirkte ernsthaft beunruhigt.
Abends erzählte ich dem Mann von meinen Bemühungen und meinte, wir müssten uns getäuscht haben: Der Nachbar könne es nicht sein, er hätte mir viel zu ernsthaft beigepflichtet.
„Naja, wer auch immer es ist, die Türen waren jedenfalls beide zu, als ich eben ankam“, meinte der Mann.
Und so blieb es auch. Den ganzen Winter, zumindest wann immer wir in Stuttgart waren, waren die Türen geschlossen. Sowohl die Haus- als auch die Kellertüre. Wir dachten schließlich nicht weiter daran, weder mussten wir noch befürchten, dass Gesindel unbehindert zu unserem Kellerraum oder hoch zu Wohnung gelangen konnte, noch kühlte das Haus unnötig aus.
Der Hausmeister hat inzwischen Zettel an beiden Türen befestigt: „Die Türe bitte dauerhaft geschlossen halten“ steht darauf. Als wir das nächste Mal kamen, waren beide Zettel verschwunden.
Bis wir Ende Februar eines Abends vom Land kamen und die Haus- mit der Kellertüre verkeilt beide offen standen. So ist es jetzt wieder regelmäßig. Unser Hausmeister hat inzwischen laminierte große Zettel an beiden befestigt: „Die Türe bitte dauerhaft geschlossen halten“ steht darauf. Als wir das nächste Mal kamen, waren beide Zettel verschwunden. Der Hausmeister hängte neue auf.
Der bei Mercedes arbeitende Nachbar, der zum neuen Jahr mit seiner Frau in die oberste Wohnung gezogen ist, sprach kürzlich meinen Mann an und fragte, ob er wüsste, wer immer die Haustür blockierte?
„Ja“, sagte der Mann, „das weiß ich wohl, oder glaube es jedenfalls zu wissen. Aber derjenige schwört, er sei es nicht. Wir verhandeln deshalb schon seit Jahren mit ihm.“
Der Mercedes-Mann schüttelte ungläubig den Kopf. „Weshalb macht er das? Es ist doch aus so vielen Gründen besser, die Haustür zu schließen…“ murmelte er und wünschte noch einen schönen Tag.
Uns sind die Beweggründe ebenfalls schleierhaft, aber wir haben akzeptiert, dass sich die Lage wohl so bald nicht ändern wird. Ich überlege nun, ob ich nicht eine Gardinenstange kaufen und einen schweren Vorhang an der Hauswand anbringen sollte. Vielleicht findet sich ja auch irgendwo ein passender Teppich.