Streit im Treppenhaus
- Bérénice Schneider
- 1. Feb. 2023
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Feb. 2023
Ich habe etwas über mich gelernt, nämlich, dass ich ein Nazi bin. Das sagt zumindest unsere neue Nachbarin in der Wohnung über uns. Dort herrschte zuletzt ein wenig Mieterfluktuation. Im Sommer zog das Mädel aus, das gern putzte, oft Smoothies zubereitete und sehr freundlich war. Wir plauderten häufig mit ihr. Dann übernahm ihr Bruder die Wohnung. Ein reizender Mensch, dessen Anwesenheit wir fast nicht wahrnahmen. Ein paar himmlisch ruhige Monate folgten.
Schließlich zog seine neue Freundin zu ihm. Das war im Herbst.
Naturgemäß begann nun für uns eine Zeit der Unruhe. Schließlich musste die Junggesellenbude in ein gemütliches Nest verwandelt werden. Da beide berufstätig sind, hatten wir im ersten Monat Verständnis dafür, dass die beiden auch kurz vor Mitternacht noch Wände anbohrten und Nägel einhämmerten.
Als die Arbeiten auch im zweiten Monat anhielten, begann der Mann zwischen zusammengepressten Zähnen unfreundliche Dinge zu murmeln.
Anfang Januar schließlich begegneten wir unserem Nachbarn nach einer besonders fleißig durchklopften und -bohrten Nacht auf dem Rückweg vom Dachboden vor seiner Tür. Der Mann fragte ihn freundlich, ob sie wohl noch lange renovieren würden? Falls ja, wäre es sehr nett, wenn sie ab zehn Uhr nachts mit den lauten Tätigkeiten aufhören könnten. Der Nachbar blickte ihn betroffen an, entschuldigte sich und versprach gerade, künftig aufzupassen. Da kam seine Freundin zur Tür herausgeschossen. Sie fauchte ohne Begrüßung, was wir wollten? Der Mann wiederholte seine Bitte.
„Sie können ja heute Nacht die Polizei rufen und Anzeige erstatten. Wir werden so lange weitermachen, bis alles schön ist.“
Sie reckte das Kinn, verschränkte die Arme und zischte: „Sie können ja heute Nacht die Polizei rufen und Anzeige erstatten. Wir sind noch nicht fertig und werden so lange weitermachen, bis alles schön ist.“ Ihr Freund zuckte zusammen und starrte sie konsterniert an. Mein Mann blinzelte überrascht. Ich versuchte es noch einmal, vielleicht hatte sie sich durch die Bitte angegriffen gefühlt.
Also antwortete ich, wie ich dachte beruhigend: „Selbstverständlich machen Sie sich die Wohnung schön. Nichts ist so wichtig wie eine schöne Wohnung. Es wäre nur furchtbar lieb von Ihnen, wenn Sie die lauten Arbeiten vor zehn Uhr nachts erledigen könnten. Die übrigen Mieter hier im Haus möchten dann nämlich gern irgendwann schlafen.“
„Die anderen Mieter… schon klar. Sie sind doch mit allen im Streit, Sie Nazi!“
Verblüfft kratzte ich mich am Hals – damit hatte ich nicht gerechnet. Verwirrt sah ich von einem zum anderen. Ihr Freund fasste sich zuerst, entschuldigte sich mit brennenden Wangen und schob sie vor sich her in die Wohnung. Von drinnen hörten wir sie laut fluchen.
Der Mann legte mir den Arm um die Schulter und drückte mich kurz an sich, ehe wir das eine Stockwerk hinab zu unserer Wohnung gingen. Dort sank ich in einen Sessel und schüttelte fassungslos den Kopf. „Wieso findet sie, ich sei ein Nazi?“
„Keine Ahnung. Sie hat einen slawischen Nachnamen, vielleicht fühlte sie sich ausgegrenzt, weil du sie in ihren Freiheitsrechten beschneiden wolltest? Oder du warst nicht woke genug.“ Sein Mundwinkel zuckte. Er hustete, doch ich erkannte das umgemünzte Lachen.
Wütend erwiderte ich: „Schön, dass du das lustig findest!“
Er lachte jetzt richtig. „Aber es ist lustig. Schau, du bist doch weder ein Nazi, noch liegst du mit irgendeinem anderen Mieter im Streit. Sie spinnt doch einfach.“
„Kümmer’ dich nicht um sie. Ich mache es auch nicht, ich spreche nicht mal mehr mit ihr, nur noch mit meinem Bruder. Die spinnt.“
Eine These, die unsere ehemalige Nachbarin ein paar Wochen später wiederholte, als ich sie beim Einkaufen traf und von unserer Auseinandersetzung erzählte. Sie schüttelte den Kopf und lachte. „Kümmer’ dich nicht um sie. Ich mache es auch nicht, ich spreche nicht mal mehr mit ihr, nur noch mit meinem Bruder. Die spinnt.“
Damit hat sie vielleicht Recht, wer weiß. Denn wenn die Neue lacht, was sie häufig tut, ist es ein minutenlanges, kindlich-schrilles Kichern, irgendwie hysterisch. Wenn sie wütend ist, und das ist sie oft, kreischt sie eine gefühlte Ewigkeit fast ohne Unterbrechung. Und von Zeit zu Zeit trampelt sie durch die Wohnung und quietscht ausdauernd. Es klingt, als würde sie mit sich selbst Fangen spielen. Aber mit dem Renovieren scheint sie inzwischen wenigstens fertig zu sein.
Es scheint mir an der Zeit, dass Mikrofone das Geschehen in der Wohnung konservieren und daraus dann eine moderne Komposition, einem Hörspiel gleich, entsteht. So könnte der überbordende Taten- und Mitteilungsdrang auch noch weltgeschichtlich bedeutsam monumentalisiert, abstrahierte und aural angestiert werden...