top of page

Irgendwer klopft immer

  • Autorenbild: Bérénice Schneider
    Bérénice Schneider
  • 1. Juli 2021
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Jan. 2023

Unsere Stadtwohnung liegt in einem hübschen Viertel – wunderbar nah am Hauptbahnhof, in Laufweite zur Innenstadt und dennoch fern vom Lärm der Großstadt. Wir leben in einer grünen Oase, in deren Bäumen Vögelchen zwitschern und Eichhörnchen keckern. Manchmal höre ich sie durch die gekippten Fenster.

Meist aber höre ich unsere Nachbarn.

Jetzt zum Beispiel. Gerade habe ich mich mit einer Tasse Tee an den Schreibtisch gesetzt, da rumst, scheppert und poltert es ausdauernd. Dazu das Heulen eines Staubsaugers. Sommerputz vielleicht? Also nach dem Frühjahrsputz, der wiederum auf den Spätwinterputz und jener auf den Vorweihnachtsputz folgte?

Meine Nachbarin putzt gerne. Und sie hört gerne Musik. Beides in Kombination ist das für sie Allergrößte. Das Hum-Tahum-Ta hat sie so laut gedreht, dass es ihren Staubsauger in den Schall-Schatten stellt. Hum-Tahum-Ta? Schon klar: Reggaeton ist längst outest, das wissen Sie und ich - nur meine Nachbarin hat es noch nicht mitbekommen.

Tok-tok-tok... Pause. Tok-tok-tok. Tok-tok... Da fehlt ein Tok, denke ich.

Hum-Tahum-Ta lenkt mich zwangsläufig vom Schreiben ab; ich ziehe also aufs Sofa auf der anderen Wohnungsseite um und greife nach einem Buch. Ich habe noch keine halbe Seite gelesen, da klopft es aus der Nachbarwohnung. Tok-tok-tok…. Pause. Tok-tok-tok. Ich kann mich bereits nicht mehr erinnern, wie der letzte Satz in meinem Buch lautet. Tok-tok…

Da fehlt noch ein Tok, denke ich.

Diese Leute halten sich nicht einmal an die simpelsten Rhythmus-Regeln. Drei Viertel „Tok“, dann ein Viertel Pause. Und so weiter, das wäre eine ordentliche Zählzeit. Wir Mitteleuropäer lieben ja den Vierviertel. Der würde das Klopfen zu einem belanglosen Hintergrundgeräusch degradieren. Denn alles, was monoton klingt, kann das Gehirn mit der Zeit ausblenden. Aber unsere Nachbarn scheinen nicht zu wollen, dass ich ihr Tok-tok-tok, tok-tok… ausblende.

Vielleicht möchten sie einfach wahrgenommen werden?, sinniere ich, als ich das Buch zuklappe und weglege. Es kann doch sein, dass sie unter einer Art Aufmerksamkeits-Defizit leiden. Sie möchten gehört, gesehen, wahrgenommen werden. Jeder möchte das, ich auch. Ich möchte, dass andere meine Geschichten lesen. Darum schreibe ich sie. Möglicherweise hat auch der Klopfer eine Geschichte zu erzählen, aber niemand hört ihm zu?

Ich würde ihm gerne helfen. Mir anhören, was er zu sagen hat. Das Problem ist bloß: Es sind so viele. Denn das Hämmern, Bummern und Tockern kommt mal von oben, mal von rechts, mal von links.

Von unten nie. Dort wohnt eine reizende ältere Dame. Sie hört bloß immer Richard Wagner.

Ich habe schon mit ihr gesprochen und sie gefragt, ob sie das Klopfen auch hören würde und ob sie wisse, wo es herkomme. Sie sagte, nein, das könne sie nicht sagen. Sie sei schwerhörig, weshalb sie ihre Musik recht laut aufdrehe. Hoffentlich störe mich Richard Wagner nicht? Ich beruhigte sie. Wagner soll ruhig weitertösen, der beherrschte die Rhythmus-Regeln. Was mich stört, ist das unrhythmische Klopfen der Geister.

Es müssen Geister sein. Denn die übrigen Nachbarn hören den Lärm auch. Also jeder von ihnen hört es, aber keiner verursacht es. Das sagen alle. Die oben, das Paar rechts von uns und die junge Familie im Nachbaraufgang auch. Bleiben nur übersinnliche Elemente.

Inzwischen bin ich vor dem Tok-tok-tok in die Wohnküche geflüchtet. Ich gieße mir frischen Tee ein und scrolle mich durch Instagram. Zu mehr reicht meine Konzentration augenblicklich nicht. Leise tönt noch das Tok-tok…tok zu mir herüber. Schließlich: Stille. Eben will ich an meinen Schreibtisch zurückkehren, da kreischt über mir in der Küche der Mixer auf. Dort ist nun Zeit für einen Smoothie. Die Zutaten sind grün, lauter Superfood. Die Nachbarin hat ihn mir mal begeistert gezeigt. Mein Fall ist das nicht. Aber sie mag dafür keinen Rehbraten.

Ich sitze noch nicht wieder am Schreibtisch, da brüllt ein anderer Nachbar aus dem Fenster. Über den Hof wird fröhlich zurück gebrüllt.

Immerhin ist sie nun mit dem Putzen fertig. Das heißt, ich kann wohl weiterschreiben. Ich sitze noch nicht, als ein anderer Nachbar aus dem Fenster brüllt. Ich verstehe es nicht, denn ich spreche kein Wasauchimmer. Möglicherweise kommt gerade ein anderer aus dem Wasauchimmerland, jedenfalls wird fröhlich über den Hof zurück gebrüllt. Ich seufze. Ob ich diesen Text heute wohl noch fertig schreiben werde?

Also greife ich mir den Laptop und türme ins Schlafzimmer. Ehe ich die Türe schließe, kracht eine andere ins Schloss. Auch das kommt häufig vor, liegt wohl an einem besonders schwergängigen Schließmechanismus, der sich jeder wohlerzogenen Hand widersetzt.

Kopfschüttelnd krabble ich aufs Bett, stelle den Laptop auf die Oberschenkel – und genieße tatsächlich eine Weile die Ruhe um mich herum. Schließlich schreibe ich weiter. Ich komme richtig gut voran, nun da alle einmal still sind.

Aber irgendwo klopft es wieder. Ich merke, wie meine Konzentration nachlässt – den letzten Satz habe ich nun schon dreimal geschrieben, gelöscht, neu geschrieben. Ich werde also einen weiteren Tee aufsetzen und im Wohnzimmer mein aktuelles Buch zur Hand nehmen. Gerade lese ich wieder Kurt Kreilers "Der Mann, der Shakespeare erfand". Sehr aufschlussreich. Oder sollte ich lieber schreiben: Ich versuche es zu lesen? Denn bestimmt fängt gleich jemand an zu schreien oder zu sägen oder zu hämmern. Ich weiß noch nicht, was davon. Vielleicht auch etwas ganz Neues, denn beim Lärmmachen sind sie wirklich kreativ und ausdrucksstark.

Wir leben sozusagen in einer grünen Oase mit kreativen und ausdrucksstarken Individuen. Wir Glücklichen.

 
 
 

2 Comments


iperez
iperez
Aug 24, 2021

Schöne Geschichte - wer kennt das nicht. Außerdem ist es immer schwierig kürzer als länger zu schreiben.


Like
info
Aug 24, 2021
Replying to

Dankeschön! :)

Like
bottom of page