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Soziale Medien

  • Autorenbild: Bérénice Schneider
    Bérénice Schneider
  • 1. März 2023
  • 3 Min. Lesezeit

„Hör auf Geschichten zu schreiben – du solltest lieber Kinderlieder singen…“ Das schrieb mir mein Vater vor einigen Tagen per E-Mail und ich habe zunächst wirklich nicht begriffen, was er meint. Dann habe ich den angehängten Link geöffnet.

Er führte zu einem Beitrag im NDR mit dem Titel „TikTok-Oma begeistert im Netz“. Wie ich erfuhr, hat es eine 86-jährige innerhalb eines halben Jahres auf TikTok zu 60 000 Followern gebracht - mit Kinderliedern, Haareföhnen und Märchenvorlesen. Ihr bislang erfolgreichster Clip wurde seit Dezember bereits 1,5 Millionen mal angesehen. Ihr Enkel hatte die Idee und verwaltet ihren Account. Geld würden sie allerdings bislang noch keines verdienen, erfährt man.

Der NDR feiert die Geschichte.

Nur um das klarzustellen: Ich freue mich für die Dame. Ich gönne ihr den Erfolg und finde es schön, dass sie im Alter etwas Neues beginnt. Besonders, da sie dem Vernehmen nach immer singen wollte. Toll.

Trotzdem antwortete ich meinem Vater: „Ist es nicht seltsam, dass so was bei den Nutzern offenbar besser ankommt, als Content, den Menschen wirklich selbst erschaffen, wie etwa Musik, Geschichten und Bilder? Die Dame trällert ja nicht mal eigene Lieder.“

Ich verstehe es wirklich nicht. Mal von meinen eigenen Instagram-Aktivitäten abgesehen, die sich weit weg von auch bloß 6000 Followern aufhalten und in die der Mann und ich einen großen zeitlichen Aufwand investieren. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich eigentlich Schriftstellerin und kein Medienclown bin, aber genau das der Zeitgeist inzwischen eben von einem Künstler verlangt. Naturgemäß kann keiner von uns beurteilen, wie gut unser Content tatsächlich ist. Vielleicht sind meine Geschichten und unsere Fotos einfach bedeutend weniger klickenswert als schief gesungene „Zehn kleine Zappelmänner“ und Haareföhnen.

In unserem Freundeskreis mühen sich Musiker, Journalisten und bildende Künstler redlich, von ihren Werken leben zu können. Sie produzieren unterhaltsame Reels mit Behind-the-Scenes-Material und „Edutainment“, verwenden einen bedeutenden Teil ihrer Lebenszeit für ihre Netzpräsenz. Ähnliches sehe ich, wenn ich mich durch meinen Instagram-Feed scrolle und studiere, was Schriftstellerkollegen bieten – ohne nennenswerten Erfolg.

Vielleicht bringt es ihnen ja Spaß und der ausbleibende Ruhm stört sie nicht. Vielleicht messen sie ihre Tätigkeit gar nicht an so etwas Schnödem wie Klickzahlen. Vielleicht beklagen sie gar nicht, dass ihr eigener hochwertiger Content nur eine dreistellige Fanschar anlockt, während 60 000 Leute einer schief singenden Oma folgen. Möglicherweise aber betrachten sie ihren Account auch als Pflichtveranstaltung, zu der sie durch Agenturen, Verlage und die Fans, erhoffte oder vorhandene, genötigt werden.

Zumindest dürften die meisten unter uns Kunstschaffenden verinnerlicht haben, was man immer wieder lesen muss: Wer nicht bei Instagram und Co. erscheint, ist nicht relevant. Wenn ich es nüchtern bedenke, stimmt es wahrscheinlich sogar. Ein Künstler, der kein Publikum hat, künstelt ausschließlich für sich selbst herum. Das war schon immer so. Was dagegen neu ist? Das Publikum als Massenerscheinung hat sich verändert. Früher waren es mehrheitlich gebildete Menschen, die kulturelles Interesse als Teil und Ausdruck ihres Selbst begriffen.

Heute, dank der Banalisierung der Kunst, haben wir es vorwiegend mit Rezipienten zu tun, die Bücher als Dekorationsobjekte in einem Regal voller Vasen verstehen. Oder Gemälde als DIY-Projekte und Songs als trendige Reel-Untermalung.

Ein erfolgreicher Musikproduzent aus unserem Bekanntenkreis sagte in einer Diskussion über den Maler Leon Löwentraut vernichtend: „Millionen Fliegen können nicht irren.“ Zum Glück bin ich keine Fliege, dachte ich zunächst.

Doch mittlerweile will es mir scheinen, dass wir genau diese Fliegen, pardon, Menschen ansprechen müssen, wenn wir für mehr als einen erlesenen Kreis von Connaisseusen schreiben/malen/musizieren wollen. Dazu sollten wir uns tummeln, wo sie sich tummeln. Sonst bleibt der Durchbruch ein Hirngespinst und wir wären finanziell deutlich erfolgreicher, wenn wir uns an die LIDL-Klasse setzten, um Einkäufe übers Band zu ziehen.

Um ehrlich zu sein: Als ich diesen NDR-Beitrag sah, hatte ich kurzzeitig den Impuls gespürt, genau das künftig zu tun.

Mein Mail-Programm plinkte erneut: eine weitere Nachricht von meinem Vater. „Ja! Es ärgert mich auch, dass der NDR so einen **** in den Nachrichten bringt und das noch dazu auf diese speichelleckende Weise“, schrieb er ungewohnt drastisch zurück. Es scheint ihn wirklich aufzuregen.

Der NDR-Beitrag zitiert die New York Times: „Ohnehin hat das Phänomen der sogenannten Granfluencer [...] in den Sozialen Medien in den vergangenen Jahren an Popularität gewonnen."

In der schriftlichen Version des NDR-Beitrags steht online übrigens: „Ohnehin hat das Phänomen der sogenannten Granfluencer, also der betagten Influencer, in den Sozialen Medien in den vergangenen Jahren an Popularität gewonnen." Und der Verfasser zitiert die New York Times: „Bitte mehr Oma-Inhalte!"

Die NDR-Redaktion meint also ernsthaft, hier eine Zeitströmung und damit eine relevante Nachricht vor sich zu haben. Offensichtlich war das Ganze kein Schenkelklopfer nach Art „Schaut mal, was die Einfältigen so alles toll finden.“

Herrje, meiner Gemütslage tun solche Überlegungen gar nicht gut, ich nähere mich in solcher Verfassung gefährlich nahe dem Hinschmeiß-Punkt.

Nach dem Hinschmeißen könnte ich auch meine Haare grau färben, mir ein paar Runzeln aufmalen. Dazu singe ich dann Lieder von Andrea Berg, leicht schief, versteht sich. Aber nicht auf Instagram – sondern an der LIDL-Kasse. Ich könnte schwören, das wird ein Hit.

 
 
 

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