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  • Autorenbild: Bérénice Schneider
    Bérénice Schneider
  • 1. Jan. 2023

Ich erinnere mich an ein Weihnachtsfest vor vielen Jahren, da zog Mutter mit mir und den Dackeln los, ging mit dem Förster in den Wald und ließ sich eine, wie sie fand, hübsche Tanne fällen. Ich denke, dass sie mir, vierjährig, in einen übergroßen Wollschal eingemummelt, die Händchen im Muff, zeigen wollte, wo die Weihnachtsbäume tatsächlich herkommen. Vielleicht war sie aber auch einfach ihrer Zeit voraus, eine Hipsterin, als es noch keine gab. Damals jedenfalls verlangte noch keiner nach schadstofffreien Bio-Weihnachtsbäumen, zahlte noch keiner Zeitgeist-beseelt unverschämte Preise.

Das Erlebnis des Baum-Holens selbst ist mir übrigens nur sehr schemenhaft im Gedächtnis geblieben. Sehr deutlich erinnere ich mich hingegen an den Wutanfall meines Vaters und die Tränen meiner Mutter an Heiligabend, als sie versuchten, den Freiland-Baum in unserem Wohnzimmer auszurichten. Egal wie herum sie ihn drehten – so schön, wie er im Wald ausgesehen hatte, wirkte er plötzlich gar nicht mehr. Irgendwann hörte ich Vater grollen: „Ich kaufe jetzt einen anständigen Baum und du machst mit dem hier, was immer du willst. Ich lasse uns jedenfalls das Weihnachtsfest nicht von einem solchen Krüppel verderben!“

Darauf flog die Haustür ins Schloss und meine Mutter zeterte ins Nichts: „Du wirst um diese Zeit keinen Baum mehr bekommen!“

Ich stellte mich auf ein verdorbenes Weihnachtsfest ein.

Vater brachte einen großen und vor allem gerade gewachsenen Weihnachtsbaum nach Hause – eine Tat, die er künftig mit viel Hingabe und Ernsthaftigkeit jedes Jahr wiederholte.

Doch wie auch immer es ihm gelang – Vater brachte einen großen, stolzen und vor allem gerade gewachsenen Weihnachtsbaum nach Hause und das Fest war gerettet. Seither war der Baumkauf seine Aufgabe, die er mit viel Hingabe und Ernsthaftigkeit verfolgte.

Also stimmte ich ihm auch letzten November zu, als wir das anstehende Fest telefonisch besprachen. Er würde den Baum besorgen und wenn ich am 22. käme, wollten wir ihn abends schmücken.

Es war das fünfte Weihnachten ohne Mutter und wir wollten es nur zu zweit verbringen. Wir wollten Mutters liebste Weihnachtslieder spielen und heiße Schokolade mit Lebkuchengewürz und Zimt trinken und auch ihr einen Becher ans Sofa stellen. So, als wäre sie noch dabei.

Doch als ich am 22. Dezember abends aus dem Zug gestiegen war und mein Vater mir den Koffer abnahm, räusperte er sich und äußerte: „Wir haben noch keinen Baum.“

Verdutzt blieb ich stehen und starrte ihn an. Ich echote: „Keinen Baum?“

„Nein. Ich wollte ein paar mal los, aber es kam immer etwas dazwischen. Betti rief an oder der Heizungsmonteur kam… Einmal musste der Hund dringend raus…“ Seine Stimme versandete irgendwie und ich starrte ihn weiter sprachlos an.

Vater hatte sich eine Zigarette angezündet, ein paar Mal gezogen und schließlich gemurmelt: „Ich bin nicht recht in Stimmung für Weihnachten. So ganz ohne sie…“

Ich verstand, was er meinte. Zu Weihnachten gehört inzwischen eine gewisse Traurigkeit; Mutter hatte noch so viele Pläne für ihr letztes Fest gehabt und sie dann nicht mehr ausführen können. Warum es uns ausgerechnet jetzt erwischte, kann ich nicht sagen. Aber wie wir dort auf dem leeren Bahnsteig unserer Kleinstadt standen, verließ uns plötzlich beide die Lust, auch nur so zu tun, als ob es ein fröhliches Weihnachten wäre.

Als wir zum Auto gingen, meinte ich, und versuchte, vergnügt zu klingen: „Weißt du was? Ich wollte ohnehin schon lange meinen Eingangsbereich renovieren. Lass uns doch einfach durcharbeiten und Heiligabend bloß zum Friedhof gehen. Das wäre für sie bestimmt in Ordnung.“

Vater wiegte zweifelnd den Kopf. Erst zuhause kam er auf meine Idee zurück. „Sie fände es zwar dumm, aber mir gefällt’s. Was willst du machen?“

Und so verbrachten wir zwei Tage in meiner alten Wohnung im Elternhaus, rissen die inzwischen ungeliebten Tapeten von den Wänden im Eingangsflur, verputzten, wo meine Bilderaufhängerei Krater hinterlassen hatte und wählten ein sehr dunkles Blau für die Wände, gegen das die jahrhundertealten Eichenbalken fast schon hell und einladend wirken. Während Vater strich, sortierte ich die Bücher in meinem Arbeitszimmer neu.

Mein Vater kam mit einem Fichtensprössling herein. "Den habe ich im Garten gefunden. Den stellen wir jetzt in eine Vase und schmücken ihn ein wenig."

Als mein Handy klingelte und der Mann aus dem Wohnzimmer seiner Eltern uns fröhliche Weihnachten wünschte und seine Mutter aus dem Hintergrund rief: „Sitzt ihr auch schon unterm Baum?“, schluckte ich und dachte: Nein. Es ist das traurigste Fest seit jenem ersten ohne Mutter.

Nach dem Telefonat ging ich hinüber in unsere alte große Küche und wollte uns einen neuen Tee aufsetzen, da kam Vater aus dem Garten herein. In der Hand hielt er einen Fichtensprössling. „Den hab ich im Garten in ihrer alten Waldlichtung gefunden. Den stellen wir jetzt in eine Vase auf dem Wohnzimmertisch und schmücken ihn ein wenig. Vor der Tür liegt noch so einer: Den bringen wir ihr nachher auf den Friedhof.“

Später saßen wir im Wohnzimmer und betrachteten unseren Baum oder vielmehr unser Bäumchen, dessen kurzfristige Beschaffung doch wieder Vaters Aufgabe gewesen war. Es war kaum fünfzig Zentimeter hoch, ziemlich unregelmäßig gewachsen und der hässlichste Baum, den mein Vater jemals ins Haus gebracht hat. Statt dem sonst üblichen Kartoffelsalat aßen wir Brötchen und Ei. Aber als wir uns mit unserer heißen Schokolade mit Lebkuchengewürz und Zimt zutranken, war es schließlich doch noch ein fröhliches Weihnachtsfest geworden.

 
 
 
  • Autorenbild: Bérénice Schneider
    Bérénice Schneider
  • 1. Juni 2022

Wir sind gerade wieder in Stuttgart, ich freue mich darüber. Solche Ausflüge nutze ich unter anderem, um mein urbanes Sozialleben wieder aufzunehmen. Ich treffe mich mit Freundinnen zum Stadtbummel und nötige den eher unwilligen Mann zu Dinner-Einladungen von Bekannten.

Gestern Nacht kamen wir von solch einer Verabredung. Die Uhr im Auto hatte 22:53 angezeigt, als der Mann einparkte, entsprechend leise stahlen wir uns ins Treppenhaus und die Stufen hinauf bis in den zweiten Stock. Alles war ruhig, unsere Nachbarn schliefen wohl längst oder waren vielleicht nicht zuhause. Auch die Burschenschaft auf der anderen Straßenseite tat keinen Mucks. Ich flüsterte: „Horch, ist das nicht himmlisch“ und der Mann antwortete: „Göttlich. So könnte es immer sein.“

Ich lag in der Dunkelheit, lauschte dem Pochen meines Herzens, dem Atmen meines Mannes und dem rhythmischen Gebumme meines Nachbarn. Irgendeines Nachbarn.

Wir lagen noch nicht lange im Bett, ich war eben eingeschlafen, da weckte mich ein diffuses „Bummmm-bummmm-bummmm…“ Der Mann seufzte und murmelte etwas, das ich nicht verstand. Inzwischen völlig wach, lag ich in der Dunkelheit, lauschte dem Pochen meines Herzens, dem Atmen meines Mannes und dem rhythmischen Gebumme meines Nachbarn. Irgendeines Nachbarn sollte ich sagen, ich wusste natürlich nicht, wer der Urheber des Geräusches war.

Neben mir knurrte es: „Was treiben diese Leute denn jetzt schon wieder?“ Da ich es auch nicht wusste, ließ ich die Frage unbeantwortet und zuckte bloß mit den Schultern. Eine Weile starrten wir schweigend in die Nacht, nach wie vor völlig unklar über den Ursprung des „Bummmm-bummmm-bummmm…“, sowohl was den Verursacher als auch was den Lärm selbst anging.

„Irre machen einfach irre Geräusche“, brummte schließlich der Mann und die Decke raschelte, als er sich zurechtkuschelte. Auch ich knuffte mein Kissen in Position und schloss die Augen. Da fiel unten die Haustür krachend ins Schloss und hallte durch das Haus. Ich erschrak so sehr, dass ich auffuhr. Das Hündchen im Korb neben dem Bett knurrte. Jemand trampelte die Stufen hinauf und redete laut – mit sich selbst oder dem Telefon. Jedenfalls hörte ich bloß eine Stimme. Ich erkannte sie: Es war die Nachbarin aus dem dritten Stock. Die mit dem Smoothie-Maker. Meine Vermutung bestätigte sich, als über uns die Wohnungstür knallte. Wie immer klirrten dabei die Gläser in unserem Küchenschrank, ich hörte sie bis ins Schlafzimmer.

Zeitgleich heulte irgendwo ein Staubsauger auf. Der Mann fluchte, schlug die Decke zurück, entblößte damit auch meine Beine, die meist auf seiner Seite liegen, und stand auf. Auf meinen Protest achtete er überhaupt nicht.

Während ich die große Bettdecke wieder zurechtzupfte, mich völlig auf meine Matratze zurückzog und leise vor mich hinschimpfte – über die ausgekühlten Beine, die seltsamen Nachbarn, den rücksichtslosen Mann – knipste dieser das Licht an, zog seinen Morgenmantel über und setzte sich mit der Zeitung in den Sessel beim Fenster. Auch ich griff nach meinem Buch.

Ich hatte gerade das zweite Kapitel des Abends beendet, als der Mann die Zeitung sinken ließ und äußerte: „Sag mal, wie stark schmutzen diese Leute eigentlich, dass sie so lange saugen müssen?“ Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern vertiefte sich wieder in seine Lektüre und endlich verstummte das Staubsaugergeräusch.

Aber wir sollten offenbar nicht zur Ruhe kommen. Denn nun hämmerte irgendwer. Zumindest erklang das altbekannte „Tock-tock-tock… tock-tock“.

„Himmelherrgottnochmal, ihr Behämmerten ertragt Ruhe nicht, oder?“ Der Mann, der gerade erst wieder zu Bett gekommen war, sprang auf und raufte seine Haare. Seine Explosion war vermutlich zu viel für meine Nerven, das letzte bisschen, dass mich nun die Kontrolle verlieren ließ. Ich weiß es nicht. Jedenfalls begann ich zu kichern. Ich konnte gar nicht mehr aufhören. Um den Mann nicht noch mehr in Rage zu bringen, drückte ich mein Gesicht ins Kissen, zog mir die Decke über den Kopf und lachte und lachte. Es war nicht besonders solidarisch, aber meine Beherrschung war dahin. Als ich mich schließlich wieder im Griff hatte und unter der Decke hervorkam, war der Mann verschwunden. Alarmiert stieg auch ich aus dem Bett und begab mich auf die Suche. Noch immer hämmerte es: „Tock-tock-tock… tock-“

In das Klopfen mischte sich metallisches Scheppern, übertönte es. Das Scheppern und Klirren war deutlich lauter und hallte außerdem erkennbar. Es klang, als spielte Pumuckl im Treppenhaus Schlagzeug. Misstrauisch, und noch immer auf der Suche nach dem Mann, ging ich zur Wohnungstür. Sie stand offen. Auf den Stufen nach oben stand mein Gefährte langer Nächte und müder Tage, rührte und klopfte auf einer seltsam aussehenden Konstruktion meiner Kochtöpfe wie auf einem ganzen Orchester und sah aus, als hätte er einen Mordsspaß. Im dunklen Flur lärmte es ohrenbetäubend.

Ich hörte unseren älteren Nachbarn im Erdgeschoss zu seiner Frau sagen: "Jaja, das kommt von hier, glaub ich. Das Haus ist auch nicht mehr, was es mal war."

Fassungslos verfolgte ich das Schauspiel einen Moment. Dann ging das Licht im Treppenhaus an und ich hörte unseren älteren Nachbarn aus dem Erdgeschoss zu seiner Frau sagen: „Jaja, das kommt irgendwo von hier, glaub ich. Das Haus ist auch nicht mehr, was es mal war.“ Unten wurde die Tür wieder geschlossen, mein Mann, der beim Geräusch der Stimme zu scheppern aufgehört hatte, stieg mit bebenden Schultern und dem Blick eines Lausbengels die paar Stufen herab und kam zurück in die Wohnung.

Als auch ich wieder abgeschlossenen hatte, brachen wir beide in Gelächter aus. Wir lehnten an der Flurwand, hielten uns die Bäuche und lachten. Uns war egal, wer uns hörte, in diesem lauten Haus schien der Lärm ja inzwischen zum guten Ton zu gehören. Schließlich keuchte der Mann: „Also diese Dinner-Party da war ja nix Dolles, aber das grad, das hat den ganzen Abend gerettet!“ Und dann griff er plötzlich nach meinem Arm, rüttelte daran und fluchte: „Verdammt, was ist denn jetzt los? Endlich sind die Deppen hier im Haus ruhig und dafür hast du schon wieder einen Lachkoller?“

Verwirrt starrte ich ihn an, im Licht der Nachttischlampe starrte er verschlafen zurück. Da verstand ich: Offenbar war ich während meines ersten Lachanfalls eingeschlafen und hatte seinen Ausflug in den Hausflur bloß geträumt. Bei der Erinnerung daran fing ich wieder zu kichern an. „Ach, schau nicht so bös’“, brachte ich hervor. „Ich wünschte, du hättest meinen Traum gehabt. Es wäre zu schön, das wirklich zu machen.“

 
 
 
  • Autorenbild: Bérénice Schneider
    Bérénice Schneider
  • 1. Apr. 2022

Gerade sitze ich am Schreibtisch in der Stadtwohnung und will einen neuen Text schreiben. Das Fenster vom Arbeitszimmer ist gekippt, ich mag frische Luft, sie hilft mir beim Denken. Unsere direkten Nachbarn scheinen unterwegs zu sein, jedenfalls höre ich nichts. Und auch das übliche Geräuschkonzert der Großstadt hat gerade Pause. Göttliche Ruhe. Ich nehme einen Schluck Tee und konzentriere mich auf meinen Text.

Da zerreisst quäkender Sprechgesang die Stille. Er kommt von der Straße und beständig näher. Jetzt stoppt das Vorsichhingeblabber – Rap mag ich es einfach nicht nennen, sonst würde ich viele Künstler von NWA bis Eminem beleidigen. Statt vertrackter Lyrik höre ich Autotune-verzerrtes Gejaule. Ich fange eine Zeile auf: „Meine Narben sind tief, darum schlafe ich nie“ und denke schmunzelnd: Junge, wie tiefsinnig.

Kurz bin ich verwirrt. Wo kommt die Musik her? Da sehe ich, dass der Mann etwas in der Hand hält: einen Bluetooth-Lautsprecher.

Inzwischen bin ich aufgestanden und ans Fenster getreten. Mich interessiert, wo der Lärm herkommt, denn ich habe kein Auto die Straße heraufbrummen gehört. Vielleicht ein Elektroauto?

Nein. Unten geht nur ein einzelner Mann auf dem Gehweg. Kurz bin ich verwirrt. Wo kommt dann die Musik her? Da sehe ich, dass er etwas in der Hand hält: einen Bluetooth-Lautsprecher.

Sie sind mir in der Innenstadt schon häufiger aufgefallen und ich habe mich jedes Mal gefragt, was die Leute, die sie in der Öffentlichkeit benutzen, sich dabei denken. Ich meine: Wie kann es jemand richtig finden, seine Umgebung mit seiner Musik zu beschallen? Es ist doch in der Stadt schon laut genug mit den Gesprächen der vielen Menschen, den Autos, Baumaschinen, Martinshörnern und Hubschraubern. Muss ich den Pegel erhöhen, indem ich Samra und Bojan oder Shirin David statt über Kopfhörer über Boxen in voller Lautstärke höre?

Was wäre eigentlich, wenn mein Nebenmann dazu den neuen Rammstein-Song spielte? Ich könnte noch die letzte Kataklysm herauskramen und damit alles übertönen. Wobei: In dieser Kakophonie könnte kein einziger von uns seine Musik wirklich genießen – abgesehen davon, dass außer mir vergleichsweise wenige Death Metal als Musik betrachten. Jedenfalls deutlich weniger, als inzwischen Deutschrap feiern.

Leute mit Bluetooth-Boxen können diese also nur nutzen, solange sie in der Minderheit sind. Am besten der einzige Laute unter vielen Leisen. Dabei ist es ihnen anscheinend gleichgültig, ob ihre Mitmenschen auch toll finden, was ihnen da vorgesetzt wird. Oder ob ihnen das Autotune-Gejaule einfach nur mächtig auf den Geist geht. Was bedeuten würde, dass neuerdings eine ganze Menge asozialer Egoisten heranwächst.

Anscheinend ist diese unsägliche Straßen-Beschallung im Mainstream angekommen und Menschen, die gelernt haben, Rücksicht zu nehmen, verwenden sie ganz selbstverständlich.

Jetzt, hier am Fenster meines Arbeitszimmers, denke ich wieder darüber nach. Als ich es endlich schließe, ist der Mann knapp unter mir angekommen. Vielleicht schreckt ihn das Geräusch des klappenden Fensters auf, jedenfalls sieht er zu mir hoch – ich blicke in ein mittelaltes Gesicht. Überrascht starre ich ihm hinterher, bis er aus meinem Blickfeld verschwindet. Mich verwirrt, dass es offenbar nicht mehr ausschließlich Jugendliche sind, die ihre Umwelt belärmen. Anscheinend ist diese unsägliche Straßen-Beschallung im Mainstream angekommen und selbst Menschen, die noch gelernt haben sollten, auf andere Rücksicht zu nehmen, verwenden sie ganz selbstverständlich.

Grübelnd kehre ich an meinen Schreibtisch zurück; die Konzentration für meinen Text ist dahin. Stattdessen sinniere ich weiter über die Boxen, den nichtmehrjungen Mann und das Thema Rücksichtnahme.

Ich erinnere mich, dass auch ich in einer Phase meines Lebens – ich hatte frisch den Führerschein und durfte in Mutters Wagen hin und wieder zur Schule fahren – das Radio im Passat laut aufdrehte. Was meine Umgebung an Iced Earth oder Metallica teilhaben ließ. Bis ich eines Tages vergaß, die Lautstärke zurückzuregeln und die CD rauszunehmen, ehe ich den VW wieder meiner Mutter übergab. Das gab nach ihrer nächsten Fahrt ein Donnerwetter!

Mutters Ansage war kurz und bündig und ich erinnere mich an jedes Wort davon: „Wenn du dich nicht wie ein zivilisierter Mensch verhalten kannst, der Rücksicht auf seine Umgebung nimmt, fährst du künftig wieder mit dem Bus.“

Das war eindeutig und ich hatte meine Lektion gelernt.

Auch wenn ich Mutter damals doof und spießig fand, wusste ich nun, dass mein Musikgeschmack und die damit verbundene Lautstärke meine ganz persönliche Angelegenheit war und so wie man Ehekrisen in aller Stille regelt, auch die private Beschallung nicht die eigenen vier Wände zu verlassen hat.

Doch während man mir damals den Passat abnahm, um der Erziehungsmaßnahme Nachdruck zu verleihen, scheint es heute nicht einmal mehr den Wunsch nach einer entsprechenden Ahndung zu geben. Wie gern wäre ich da noch einmal Kind.

 
 
 
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