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Die unendliche Suche nach dem Baum

  • Autorenbild: Bérénice Schneider
    Bérénice Schneider
  • 1. Dez. 2021
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Jan. 2023

Wir sind zur Zeit wieder auf dem Land. Ich sitze gerade im Wohnzimmer, im Ofen knistert das Holz und die Kerzenflammen zittern ein wenig im Luftzug; neben mir schmelzen Marshmellows in der heißen Schokolade. Wenn ich aufsehe, blicke ich auf unseren Christbaum.

Moment, wir haben Mitte Dezember und wir haben schon den Baum geschmückt? Ja, längst. Ich habe die Tradition übernommen, als ich in England lebte. Dort steht der Weihnachtsbaum den ganzen Dezember lang – die Briten kennen dafür keinen Adventskranz. Ich fand es sinnvoll: Schließlich ist es doch schade, eine wunderschön gewachsene Tanne irgendwann Mitte bis Ende November zu schlagen, sie dann wochenlang draußen herumstehen zu lassen, nur um sie schließlich für zwei Wochen in unseren Wohnzimmern aufzustellen. Schade um den schönen Baum, dachte ich und mache mich darum jedes Jahr zum ersten Advent auf die Suche nach unserem perfekten Weihnachtsbaum.

Aber hier liegt für mich inzwischen die Schwierigkeit. Den perfekten Baum finde ich einfach nicht mehr. Ich schreibe „nicht mehr“ und versuche mich an die Weihnachtsbäume meiner Kindheit zu erinnern. Sie waren groß, die Zweige – nach unten hin immer dicker und länger – wuchsen in gleichmäßigen Abständen aus dem geraden Stamm. Stolz trugen sie rote Glaskugeln, vergoldete Nüsse und glitzernde Eiskristalle aus farblosem Glas. So habe ich sie in Erinnerung.

Doch wenn ich mich an meinen diesjährigen Ausflug am Samstag vor dem ersten Advent erinnere, zweifle ich ein wenig an der Echtheit dieser Bäume.

Wir zogen einen Baum nach dem nächsten aus dem Pulk – beim einen bog sich die Spitze nach rechts, beim nächsten entdeckte der Mann eine kahle Stelle im Bauchbereich.

Der Samstag begann, indem Mann, Hund und ich, zunächst einmal (aus schlichter Neugierde und rein zu Recherche-Zwecken) auf dem Weg zur Baumschule im Nachbarort am örtlichen Baummarkt hielten. Davor hatten sie Reihen an Reihen mit Nordmann-Tannen aufgebaut. Zu dritt wanderten wir die Bäume ab, zogen mal diesen, mal jenen aus dem Pulk und drehten ihn um seine eigene Achse. Beim einen bog sich die Spitze nach rechts, beim nächsten entdeckte der Mann eine kahle Stelle im Bauchbereich. Das Hündchen, bereits jetzt gelangweilt, wanderte fröstelnd Richtung Ausgang, wo sie sich einer fremden Dame anschloss.

Als wir eben gehen wollten, entdeckte der Mann eine kleine, vielleicht hüfthohe Blaufichte im Topf. Ihr Wuchs: gerade und ebenmäßig. Ihre Nadeln: pieksig. Bis auf die Stacheln gefiel sie uns sehr gut. Aber wir wollten hier ja gar nichts kaufen.

In der Baumschule im Nachbarort präsentierte die Mitarbeiterin geduldig eine Tanne nach der anderen. Große, kleine, mittlere… Auch hier entdeckten ich oder der inzwischen etwas grimmig dreinschauende Mann mal hier, mal dort Nachteile. Der Hund verkroch sich unter einem ausladenden Exemplar im Ständer und verweigerte den weiteren Gehorsam.

Schließlich, wir hatten jeden einzelnen Weihnachtsbaum abgelehnt, meinte die Verkäuferin müde, wir sollten zur Weihnachtsbaumschonung ein paar Ortschaften weiter fahren. Die hätten „wirklich immer ganz tolle Bäume. Aber erst ab dem zehnten Dezember.“ Ich schüttelte den Kopf. Der zehnte Dezember ist schließlich nicht der erste Advent.

Nach drei weiteren Stationen mit schiefen, krummen oder zweispitzigen Tannen blieb die Hündin einfach im Auto sitzen und der Mann sah nicht mehr nur ein wenig grimmig aus. „Können wir uns bitte dieses Mal für irgendeinen verdammten Baum entscheiden?“, knurrte er beim Aussteigen. Ich nickte nachgiebig, ich wollte es ja selbst.

Aber, was soll ich sagen – wir konnten es nicht. Ich hatte immer diese großen, wundervollen gold- und rotblitzenden Bäume meiner Kindheit im Kopf und kein einziger hier hielt da mit. Und auch der Grimmige schien sich für keinen dieser armen Kerle erwärmen zu können. Über dem letzten davon warf er mir einen Blick zu und brummte: „Also, der einzige, der mir halbwegs gut gefallen hat, war die kleine Fichte im Baumarkt.“

Ich seufzte. Es ging mir genauso.

Wieder im Baumarkt ging er also zielstrebig zu seinem Blaufichtchen, während ich noch einmal, relativ wahllos, eine der Nordmann-Tannen aus dem Stapel zog. Sie ist etwas kleiner als ich und recht schlank gewachsen. Einzelne Zweige ragten über die unteren hinaus, doch die könnte ich kürzen. Die Abstände zwischen den Ästen an sich wirkten luftig. Mit Schmuck darin, fiele das vielleicht gar nicht so sehr auf. Die Spitze selbst war gerade und lang gewachsen – ideal, um einen Stern darauf zu stecken.

Kurz warf ich einen Blick auf die kleine Blaufichte. Keine Frage: Sie war, mal von der Größe abgesehen, der um Längen schönere Baum. Aber, das war es eben: Sie war einfach sehr, sehr klein. Und natürlich sehr pieksig.

Noch einmal drehte ich die Nordmann-Tanne in meiner Hand, die eine Seite war schon wirklich sehr buschig. Aber wenn ich sie zur Wand drehen würde… und dann mit dem Schmuck… und zur Not der Astschere…

Auf der Heimfahrt schmollte ich ein wenig. Ich musste mich ja erst einmal an den Gedanken gewöhnen, wieder keinen perfekten Christbaum zu haben.

Ich bin ganz ehrlich: Ich redete sie mir schön. Ich mochte nicht mehr. Ich wollte nur noch irgendeinen Baum und dann nach Hause. Ich erkannte die Situation sofort – an diesem Punkt befinde ich mich nämlich jedes Jahr aufs Neue. Seufzend sagte ich: „Schau mal, was sagst du zu diesem hier? Geschmückt sieht er bestimmt ok aus…“

Auf der Heimfahrt schmollte ich dann ein wenig, musste mich ja erst einmal an den Gedanken gewöhnen, wieder einmal keinen perfekten Christbaum zu haben.

Nun sitze ich also hier im Wohnzimmer, betrachte den dekorierten Baum und trinke heiße Schokolade mit Marshmellows. Im Radio läuft die Nussknacker-Suite von Tschaikowsky. Die buschige Seite der Tanne habe ich etwas ausgelichtet und Richtung Wand gedreht und die besonders großen Lücken zwischen den Ästen mit größeren Kugeln und Anhängern kaschiert. Eigentlich, denke ich, sieht er doch ganz hübsch aus. Perfekt ist der Weihnachtsbaum jedoch wirklich nicht – aber daran sollte ich mich in all diesen Jahren der Verzweiflungsbaumkäufe eigentlich inzwischen gewöhnt haben…

 
 
 

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