Farbenlehre bei den Mülltonnen
- Bérénice Schneider

- 1. Nov. 2021
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Jan. 2023
In der Stadt haben wir neue Nachbarn. Wir lernten sie kennen, als wir kürzlich mal wieder für einige Nächte in unserer Wohnung waren. Nach einem fröhlichen „Hallo!“ im Treppenhaus war mein erster Eindruck: nette Leute.
Sie zogen anscheinend gerade erst ein, es gab viel Getrapse, treppauf und treppab. Gelegentlich knallte irgendetwas gegen das Geländer, dann dongte es sekundenlang wie eine Kirchenglocke. Vor der Türe der neuen Nachbarn häuften sich Zellophantüten und Ikea-Kartons. Im ganzen Treppenhaus lag nasses Laub gemischt mit Pappfetzen.
Unten, bei den schwarzen Restmülltonnen, sah es nicht viel besser aus - aus einer ragten, weithin sichtbar, große Styroporplatten. Die Tonnen werden einmal wöchentlich geleert und wenn ich über die Jahre auch beobachtet habe, dass der Müll komischerweise zunahm, obwohl die Anzahl der Parteien im Haus gleichblieb, habe ich die Tonnen noch nie so früh so voll erlebt.
Kurz stand ich einfach still und staunte. Dann begann ich zu rechnen: Es war Montag und alle Tonnen bereits übervoll. Die Abfuhr kommt aber erst am Mittwoch. Für uns wäre das kein Problem, wir würden unseren wenigen Müll einfach kurz im Keller zwischenlagern. Ob unsere Nachbarschaft allerdings auf eine ähnliche Idee käme? Fraglich, weshalb ich mir gut vorstellen konnte, wie es am Mittwoch hier aussehen würde. Also holte ich einen gelben Sack aus dem Keller und verstaute das Styropor darin. Nun hatten wir wenigstens noch eine von vier Mülltonnen für das Haus zur Verfügung.
Auch die Papiertonnen waren inzwischen überfüllt – mit Ikea-Kartons. Was die Nachbarn nicht hatten unterbringen können, hatten sie einfach daneben gestapelt.
Als ich abends wieder nach Hause kam, war auch sie voll. Ein Nachbar aus dem Nebenaufgang kam gerade mit seinem Abfall, sah die vollen schwarzen Tonnen und entsorgte seine Last im Biomüll. Mein Blick fiel auf die blauen Papiertonnen. Auch sie waren inzwischen überfüllt – mit Ikea-Kartons. Nur notdürftig zusammengefaltet benötigte jeder einzelne beinahe eine ganze Tonne für sich. Was die Nachbarn nicht hatten unterbringen können, hatten sie einfach daneben gestapelt.
Ich erinnerte mich daran, wie ich damals selbst hier eingezogen war. Mein Vater und ich hatten meine Ikea-Küche aufgebaut und dann den ganzen Verpackungskram nach unten getragen. Wir hatten Ewigkeiten draußen gestanden und jedes einzelne Stück zerrissen. Was sich nicht zerreißen ließ, hatten wir möglichst klein gefaltet. Es war an sich viel Kartonage, die sich allerdings auf erstaunlich engen Raum entsorgen ließ.
So haben es seither auch viele der anderen gemacht. Zugegeben: Manche haben sich große Mühe gegeben, andere dagegen, nun, weniger. Aber zu diesen aktuellen Verheerungen war bislang noch keiner imstande gewesen.
Dieses Mal weigerte ich mich, Hilfsdienste zu leisten – es regnete und war kalt: Ich war müde und wollte einfach nur rein und mir ein Bad einlassen. Auf dem Weg zur Haustür sah ich unsere neuen Nachbarn durch die beleuchteten Küchenfenster fleißig Schränke aufbauen. Als ich meinen Mantel weghängte, schepperte und klopfte es nebenan.
Ich lag eben lesend in der Wanne, als mich eine Frage jäh aus der Geschichte riss. „Hast du die Mülltonnen gesehen? Was ist denn da passiert? Irgendjemand hat sogar in die Altkleidertonne Pappkartons reingestopft.“ Der Mann klang fassungslos. Ich legte das Buch zur Seite und betrachtete ihn fasziniert. „Was, ist NOCH MEHR dazu gekommen? Ich dachte, sie hätten inzwischen alles draußen…“
Ich sah, dass er mir nicht folgen konnte und erklärte: „Unsere neuen Nachbarn.“ Ich erzählte von meinen nachmittäglichen Erlebnissen. Kopfschüttelnd hörte er zu. Am Ende äußerte er etwas Obszönes und verließ das Badezimmer.
Unser bulgarischer Nachbar zerriss die Kartons in handliche Stücke und drückte sie in der Tonne nach unten. Dann äußerte er: "Haben die nix gelernt Farben? Tonne ist weiß. Nix Blau!"
Als ich am nächsten Morgen aus dem Haus trat, sah ich unseren bulgarischen Nachbarn vom Nebenaufgang bei den Mülltonnen hantieren. Er schien vor sich hin zu fluchen.
Er hörte wohl die Haustüre, jedenfalls blickte er sich um und wünschte mir grimmig einen guten Morgen. Ich antwortete und hielte, wie immer, für einen kurzen Plausch bei ihm an. Jetzt verstand ich, was ihn in Rage versetzte: Er hatte große Kartons aus einer der blauen Tonnen herausgeholt und zerriss sie in handliche Stücke. Er war schon gut vorangekommen. Nun deutete er auf das Chaos und knurrte: „Was ist das hier? Haben die nix gelernt, Papier klein zu machen?“ Er beugte sich in die blaue Tonne vor sich und drückte die zerkleinerten Stücke nach unten. Als er sich wieder aufrichtete, nickte er zur weißen Altkleidertonne rüber und äußerte: „Auch dort war Karton. Haben die nix gelernt Farben? Tonne ist Weiß. Nix Blau!“
Ich stimmte ihm kopfschüttelnd zu, wünschte ihm einen schönen Tag und ging. Als ich ins Auto stieg, dachte ich über den Saustall bei den Mülltonnen nach und kam zu dem Schluss: „Das mit dem Nettsein der Neuen hat sich irgendwie ziemlich schnell relativiert.“


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