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  • Autorenbild: Bérénice Schneider
    Bérénice Schneider
  • 1. März 2022

Kürzlich sah ich seit langem wieder einmal den Film „10 Dinge, die ich an dir hasse“ mit Heath Ledger und Julia Stiles. Es ist ein Jugendfilm aus dem Jahr 1999 und eine der unzähligen Interpretationen der Shakespeare-Komödie „Der Widerspenstigen Zähmung“. Keine große Kunst – aber ich liebte ihn als Heranwachsende und amüsierte mich auch jetzt wieder.

Hängen blieb ich gedanklich bei einer Szene mit Katharinas kleiner und etwas dummer Schwester Bianca. Deren Freundin Chastity, noch um einiges dümmer als Bianca, fragt: „Also, man kann überwältigt sein, man kann unterwältigt sein, aber kann man auch bloß wältigt sein?“

Damals, als ich den Film zum ersten Mal sah, fand ich es unglaublich komisch.

Menschen, die es besser wissen müssten, benutzen einen inhaltsleeren Wortstummel, bei dem eine hohle Nuss das Gefühl gehabt hätte, dass was fehlt.

Neulich nun konnte ich nicht mal mehr müde lächeln: Ich hatte gerade erst wieder einen Zeitungsartikel gelesen, in dem eine „wertige Materialanmutung“ gelobt wurde. Menschen, die es besser wissen müssten, die ihr Geld mit Sprache verdienen, finden es inzwischen völlig angemessen, einen inhaltsleeren Wortstummel zu benutzen, bei dem möglicherweise sogar unsere geistig schlichte Highschool-Tussi das Gefühl gehabt hätte, dass da noch etwas fehlt. Und mit ihnen, mit den professionellen Schreibern, verwendet es die breite Masse.

Man wird sagen, dass sich Sprache eben weiterentwickle, dass geil auch nicht mehr das gleiche bedeutet wie vor fünfzig Jahren. Das stimmt selbstverständlich.

Ebenso selbstverständlich ist, dass eine solche Veränderung zum Teil auch von uns, den Schreibern ausgeht – es ist unsere Aufgabe und unser Privileg, Worte in einen neuen Kontext zu setzen, alte zu verdrehen und mit neuem Sinn zu füllen. Ich tue es selbst.

Und vielleicht gilt das auch hier, vielleicht hat die Deutsch sprechende Menschheit, oder jedenfalls ein großer Teil von ihr, beschlossen, wertig als Synonym für hochwertig anzusehen. Immerhin passt es sich damit dem Substantiv Wert an, der allerdings völlig neutral daherkommt, erst im Guten wie im Schlechten gefüllt werden will. Möglicherweise wächst bald eine Generation heran, die weder hoch- noch minderwertig kennt, sondern sagt: „Die Jacke hier ist wertig und die dort scheiße.“ Das klingt seltsam für mich. Aber ich werde mich daran gewöhnen.

Schließlich habe ich mich allmählich auch an das Lieblingswort der vergangenen Monate gewöhnt, an boostern.

Bis heute wundere ich mich über diese Wortschöpfung. Es klingt wie ein Anglizismus und ist es doch nur teilweise. Die Booster-Impfung, die booster vaccination, ist dem englischen entlehnt – und dann scheint der Erfinder des Boosterns beschlossen zu haben, dass die Deutschen zu blöd sind, um boosten als Verb zur Impfung zu verstehen. Also nahm er das englische Substantiv der Booster-Impfung, den Booster, und hängte ein N hinten dran, weil Verben schließlich so enden. Ein Booster boostet und was dabei passiert, ist ein Boost. Mehr Buchstaben braucht es nicht, es sind bereits genug korrekte an Ort und Stelle.

Wir lassen uns schließlich auch nicht auf Corona testern!

Ja, genau, testern. Kommen wir zu den Testungen. Auch so ein absurdes, schlicht falsches Wort, aber sehr beliebt bei Wissenschaftlern. Vor wenigen Jahren wurde es Journalisten in der Ausbildung noch ausgetrieben – was heute viele jedoch vergessen zu haben scheinen, da sie es, beseelt von neugewonnenem Vertrauen in die Wissenschaft, völlig selbstverständlich schreiben.

Aber vermutlich handelt es sich auch hier um die Evolution der Sprache. Wir müssen bloß lernen, mitzugehen.

Die unguten und gendergerechten Wörter schaffen in unseren Hirnen neue Verknüpfungen. Manchmal komme ich nicht mit, freue mich aber, etwas für meinen Geist zu tun.

Neuerdings lernen wir ohnehin sehr viel in unserer Sprache. All die unguten Wörter und gendergerechten Formulierungen sorgen in unseren Hirnen für immer neue Verknüpfungen. Manchmal fällt es mir schwer, mitzuhalten, aber ich freue mich immer wieder, etwas für meinen Geist tun zu können.

Und auch hier bietet sich zum Glück ein breites Betätigungsfeld für die schreibende Zunft: Immerhin gilt es regelmäßig, ein neu entdecktes aneignendes oder diskriminierendes oder sexistisches Wort zu woke-isieren. Besonders begeistert bin ich etwa immer noch von dem Newsletter einer Chefredakteurin, in dem sie von „Politik*innen“ schrieb. Das nenne ich weit gedacht und ganz im Sinne der Zeit gehandelt: Die Politik, bereits weiblich, als Basis für die Berufsbezeichnung, die nun nur noch Unentschlossene und menstruierende Menschen einbezieht. Nieder mit dem ganzen Männerpack! Perfekt.

Das inspiriert mich zu einer eigenen Idee: Wir sollten künftig nämlich mehr über die Gleichbepflichtigung von mit Penis geborenen nachdenken. Sollten sie sich noch nicht dem allgemeinen Trend angeschlossen haben, ihr tatsächliches Geschlecht zu verleugnen und mit einer ähnlich rückständigen Frau ein Kind gezeugt haben, sollten sie wenigstens die Hälfte der Schwangerschafts- und Geburtsqualen (eigentlich aber doch die ganzen) übernehmen. So sieht schließlich wahre Gleichberechtigung und -bepflichtigung aus: Die Mutter hatte den ganzen Spaß beim Sex und der Vater die darauf folgenden Leiden. Da Männer als Väter außerdem häufig Fett ansetzen, teilen sie sich künftig auch die ruinierte Figur.

Und Chastity aus der Shakespeare-Interpretation würde sagen: „Also, es gibert ja gar keine Männer*innen und Fraupersonen. Aber wenn mir einer nicht glaubert, kann man den zur Untersucherung schickern und so beweisern, dass ich Rechtung habe.“

Daran, davon bin ich überzeugt, könnte ich mich sofort gewöhnen – und fände es auch endlich wieder unendlich komisch.

 
 
 
  • Autorenbild: Bérénice Schneider
    Bérénice Schneider
  • 1. Feb. 2022

Gestern Abend kamen wir wieder in unsere Stuttgarter Wohnung. Es war die Rückkehr aus dem Paradies: vom Land mit seiner herrlichen Stille und nachts völligen Schwärze. Unsere Nachbarn zwar in Rufweite aber nicht Wand an Wand. Perfekt.

Und ich wollte direkt wieder dorthin zurück, als ich die Haustür aufschloss – denn im Hausflur schallte mir, ohrenbetäubend, Deutschrap entgegen. Auf meinem Weg in den zweiten Stock nahm der Lärm zu, vor der Tür unserer neu eingezogenen Nachbarn in der ersten Etage (schräg unter uns), kulminierte er.

Ich klingelte spontan bei den Nachbarn. Und klingelte. Und klingelte. Und klingelte ein drittes Mal, jetzt langanhaltend. Dazu klopfte ich.

Seufzend trug ich das Gepäck in die Wohnung und ging wieder treppab, um die Post aus dem Briefkasten zu holen. Durch das Flurfenster sah ich meinen Mann das Auto parken. Spontan klingelte ich bei den Nachbarn. Und klingelte noch mal. Und klingelte ein drittes Mal, jetzt langanhaltend. Dazu klopfte ich.

Anscheinend fiel den Nachbarn das Klopfen auf – vermutlich da es sich nicht in den Rhythmus des Drumcomputer-Dröhnens einfügte. Jedenfalls verstummte die Musik und ich nahm hinter der Tür Kruschteln wahr. Dann das Klacken des Schlüssels im Schloss. Schließlich, unten hörte ich bereits meinen Mann die Haustür aufschließen, tauchte unser Nachbar in seiner Türe auf. Er wirkte irritiert. „Ja?“

Möglichst freundlich erwiderte ich: „Hi. Ich finde eure Mukke wirklich total cool (nicht!). Aber noch cooler fände ich, wenn sie mich nicht unten an der Haustür empfängt, wenn ich gerade nach Hause komme.“

Er starrte mich kurz an und äußerte: „Echt? Ja klar, sorry. Darf ich fragen, wo du wohnst? Nebenan?“ Er deutete über den Gang auf die Wohnung der älteren russischen Dame direkt unter der unseren. „Nein, dort.“ Ich zeigte die Treppe hinauf. „Das tut aber nichts zur Sache. Eure Musik ist einfach zu laut.“

„Hm. Wo hast du sie denn gehört? Als du –„ hier zwinkerte er verschwörerisch, „gerade hier an der Tür vorbeigekommen bist?“

„Nein,“ jetzt sprach ich wie mit einem Kind, aber ich konnte nicht anders. Mir schien seine Unverfrorenheit dermaßen infantil, dass ich sozusagen automatisch in diesen Modus wechselte. „Nein, ich hörte eure Musik als ich unten die Haustür aufschloss bereits in Clublautstärke. Ohrenbetäubend wurde sie dann hier vor deiner Tür und immer noch sehr gut zu verstehen war sie in unserem Schlafzimmer, das an die Wohnung im Nachbaraufgang anschließt. Also ziemlich weit weg von deiner Tür.“

Nun wirkte er leicht überrascht, allerdings nicht besonders reuig. Ich konnte ihn nur bewundern. Als meine Nachbarin in Hamburg, damals studierte ich im ersten Semester, das Haus war viel kleiner und die Dame bedeutend älter als ich heute, als diese Dame mich einmal im Flur stellte und auf meine laute Musik hinwies, war mir die ganze Szene derart peinlich, dass ich in Tränen ausbrach. Und dabei hatte sie nur gesagt, dass sie meine Musik durch die angrenzende Wand hören würde. Nix mit Clublautstärke und so.

Ich beäugte meinen Nachbarn unwillig. Er kratze sich am Kopf und brummte: „Oh. Na, das wusste ich nicht. Sorry. Ich mach sie leiser, ok?“

„Viel leiser, ja, bitte.“ Dann bedankte ich mich und wünschte noch einen schönen Abend. Kopfschüttend erwartete ich meinen Mann, den ich nun die Treppen heraufkommen hörte. Auch er schüttelte den Kopf.

Wir hatten eben zu Abend gegessen und saßen nun lesend im Wohnzimmer, als erneut rhythmisches Bum-Bum-Bum durch die Wände tönte. Ich versuchte es zu ignorieren und mich auf mein Buch zu konzentrieren. Neben mir raschelte die Zeitung beängstigend. Ein sicheres Zeichen für zunehmende Wut beim Mann. Ich tat, als merke ich nichts. Schließlich ließ er die Zeitung sinken und zischte: „Wie blöd ist dieser Bursche eigentlich?“

„Mach halt auch Musik an, dann hören wir seine nicht mehr.“ Ich bin ganz ehrlich: Die Rolle des Blockwarts gefällt mir nicht sonderlich. Ich lebe gern in Frieden und meide Auseinandersetzungen wo es geht. Auch glaube ich nicht, dass es meine Aufgabe ist, meine Nachbarn zu erziehen. Ich möchte einfach meine Ruhe haben, so wie ich anderen die ihre lasse.

Bloß funktioniert diese gegenseitige Rücksichtnahme in diesem Haus nicht – sie ist sehr eindimensional.

Mein Mann wird von weniger Skrupeln geplagt: Statt zur Hifi-Anlage ging er zur Tür. Kurz darauf hörte ich ihn im Hausflur reden. Sehr lange reden, sehr wohlartikuliert und sehr eindringlich. Ein Zeichen, dass er stocksauer war. Von unserem Nachbarn hörte ich bloß hin und wieder Murmeln.

Als mein Mann wieder hereinkam, fragte ich: „Und? Hast du ihm Nachhilfe in Knigge ereilt?“

„Nein. Ich habe für ihn eine Physikstunde gehalten und erklärt, wie das mit Schall und tiefen Frequenzen so funktioniert. Und gesagt, dass er entweder jetzt die Bässe aus seiner Anlage rausdreht, was er wahrscheinlich bei Spotify und seinem Handy gar nicht kann, oder seine verdammte Musik so leise macht, dass ich sie auch vor seiner Wohnungstür nicht höre. Das, sagte ich, bedeute nämlich Zimmerlautstärke.“

Ich grinste. „Und? Hat er es verstanden?“

Dann kam unsere Nachbarin nach Hause. Statt Deutschrap lauschten wir dem Sound des Smoothie-Makers. „Oh Gott, ich will nach Hause“, stöhnte mein Mann.

„Keine Ahnung, er machte jedenfalls nicht den Eindruck. Aber als er die Musik anschließend wieder anstellte, war sie tatsächlich nur noch ganz leise im Flur zu hören.“

Der Mann nahm seine Zeitung wieder auf und las eine Weile. Dann kam unsere Nachbarin aus dem Stockwerk über uns von der Arbeit nach Hause. Statt Deutschrap lauschten wir nun dem Sound eines Smoothie-Makers. „Oh Gott, ich will einfach wieder nach Hause“, stöhnte mein Mann und faltete die Zeitung zusammen. Auch ich klappte mein Buch zu.

Als wir im Bett lagen und unsere Nachbarin über uns den Staubsauger herausholte, meinte ich: „Viellicht lässt sich ja mein Termin übermorgen auf morgen vorverlegen. Dann könnten wir morgen wieder abfahren…“

 
 
 
  • Autorenbild: Bérénice Schneider
    Bérénice Schneider
  • 1. Jan. 2022

Kurz vor Weihnachten schenkte mir eine Freundin einen Amethyst. Sie fand, er eigne sich gut für meinen Schreibtisch, weil er die Konzentration stärke. Außerdem habe sie ihn bei Instagram und Pinterest häufig auf Schreibtischen gesehen – ansprechend inszeniert auf achtsam platzierten Coffee-table-Büchern. Sie riet, ich solle noch eine kleine goldene Vase mit einem Rosenstrauß dazustellen. Das sähe besonders hübsch aus, wie sie gesehen hätte.

Ich fragte ironisch: „Rote oder weiße Rosen?“, was sie verwirrte. Ich erklärte, dass sich Rot und Lila in meinen Augen beißen würden, ich müsste also weiße besorgen oder gleich rosé- oder lilagetönte, das passe farblich am besten.

Sie ist um einiges jünger als ich und ihre Konzentrationsfähigkeit generationsbedingt nicht mehr ausreichend für eine monothematische Unterhaltung über mehr als drei Sätze.

Wie ich merkte, hatte sie allerdings inzwischen den gedanklichen Anschluss verpasst; sie ist um einiges jünger als ich und ihre Konzentrationsfähigkeit generationsbedingt nicht mehr ausreichend für eine monothematische Unterhaltung über mehr als drei Sätze. Entsprechend erwiderte sie zerstreut: „Auf den Fotos sieht es immer so schick aus.“

Ich legte den Amethyst auf einen Stapel Manuskriptseiten und vergaß ihn für die kommenden Tage. Als wir kurz vor dem Jahreswechsel für eine Nacht nach Stuttgart kamen und ich die Manuskriptseiten für die weitere Bearbeitung in meine Tasche legen wollte, holperte mir sozusagen der Stein entgegen - direkt in meine Aufmerksamkeit. Von dem Moment an entdeckte ich das Zeug einfach überall. Mir wurde klar: Das Geschenk war einem Trend gefolgt.

Nun ist es nicht so, dass ich noch nie in meinem Leben mit Halbedelsteinen in Berührung gekommen wäre. Ich kenne sie natürlich als Schmuck; aber ich erinnere mich auch sehr gut an meine Kindheit, als meine Mutter und alle ihre Freundinnen in ihren Häusern Glasgefäße mit Achaten, Saphiren und Mondsteinen stilvoll auf Beistelltischchen, Konsolen und, ja, Schreibtischen arrangierten. Bei meiner Schwiegermutter entdeckte ich kürzlich auch noch ein paar von diesen Gläsern, vergessen, ganz hinten in einem Kellerschrank. Bei den besonders Trendbewussten verschwanden die Dinger schon recht bald wieder von der Bildfläche – Halbedelsteine waren offenbar aus der Mode gekommen.

Und nun sind sie also wieder da. Soll ich mich freuen, weil ich ohne großen finanziellen Aufwand (ich müsste bloß meine Schwiegermutter um ihre bitten) auf Höhe der Zeit sein könnte? Ein Anfang wäre schließlich mit jenem Weihnachts-Amethyst bereits gemacht.

Die Sache ist bloß die: Ich reagiere allergisch auf Hypes. Wenn irgendetwas plötzlich überall auftaucht, lehne ich es schon aus Prinzip ab. Selbst wenn es mir ursprünglich gefiel, wie etwa die Midcentury-Musikbox meiner Großeltern, die seit meinen Studententagen Teil meiner wechselnden Wohnzimmer war. Kaum dass alle Welt Nierentischchen und Eames-Chairs anschleppte, wanderte besagtes Möbel in unseren Keller. Ich heiße schließlich nicht Hinz oder Kunz.

Die Reaktion mag elitär erscheinen, aber für mich ist das Herrennen hinter Trends ein Ausdruck von Hilflosigkeit - wer keine eigenen Ideen hat, braucht jemanden, der ihm sagt, was er machen soll. Ich bin stolz darauf, dass ich keinen Vorbeter benötige, um durchs Leben zu kommen.

Dabei ist mir völlig klar, dass auch ich nicht frei von den Einflüssen der Mode bin; völlig entziehen kann sich vermutlich kaum jemand und es verlangt viel Aufmerksamkeit, um jede subtile Beeinflussung vom Massengeschmack wahrzunehmen. Was ich aber weder verstehe noch schätze, ist dieses manische Immer-den-letzten-Schrei-nachmachen.

Zumal diese Schreie immer kürzer werden, sozusagen. In anderen Worten: Die Abstände, in denen sich eine Mode wiederholt, folgen immer schneller aufeinander. Es vergingen gut 1500 Jahre von der Antike bis zur Renaissance, die Aspekte der griechischen und römischen Kultur wieder aufgriff – jedoch nicht kopierte. Von der Gotik zur Neogotik waren es schon keine 700 Jahre mehr. Hier orientierte man sich bereits deutlich stärker an der Formensprache des Originals. Das Wiederaufleben des Midcentury-Stils dauerte schon nur mehr ein halbes Jahrhundert. Es handelt sich nicht mehr um eine Neuinterpretation, sondern ums Wiederverwenden der alten Teile.

In der Mode geht der Wandel logischerweise noch viel schneller – mein Mann lachte vor einigen Monaten über den vorherrschenden Kleidungsstil mit hochwässrigen Karottenhosen und Schulterpolstern und sagte, er fühle sich so in seine Kindheit zurückversetzt. Ich lachte auch, aber eher über ihn.

Dann standen wir eines Tages an einer Ampel und ich beobachtete durchs Autofenster ein junges Mädchen, vielleicht zwölf oder 13 Jahre alt. Sie trug klobige Plateau-Turnschuhe, extraweite Schlaghosen und ein Oberteil, das knapp unter den noch kaum vorhandenen Brüsten aufhörte. Sie sah aus wie ich mit zwölf oder dreizehn. Nur waren meine Schlaghosen damals bereits alt – sie hatten in den 70er Jahren meiner Mutter gehört und auf verschlungenen Wegen die Jahrzehnte überdauert. Wir kopierten nämlich schon einen vergangenen Stil, befanden uns sozusagen im Neo-Hippiezismus und wussten es. Die polyesternen Glanz-Hosen dieser Ampel-Wiedergängerin der jungen Bérénice, rund 15 Jahre später, waren mutmaßlich neu.

Die Designer von heute entwerfen anscheinend nichts Eigenes mehr, sie greifen in die Schublade mit dem Titel „Von vor zehn Jahren“, recyceln das Material und verkaufen es als brandneu.

Die Designer von heute entwerfen anscheinend nichts Eigenes mehr, sie greifen einfach in die Schublade mit dem Titel „Von vor zehn Jahren“, recyceln das Material und verkaufen es als brandneu. Die Älteren schmunzeln vielleicht und ärgern sich, dass sie ihre alten Sachen nicht aufbewahrt haben, um sie nun wieder anzuziehen. Die Jüngeren feiern den ach-so-coolen Stil und laufen (völlig unbewusst) wie ihre doch so völlig uncoolen Mütter herum.

Das erklärt auch, dass meine junge Freundin nicht wusste, dass sie mit ihrem schicken Amethysten ziemlich altmodisch auf mich wirkte. Wie sollte sie es auch ahnen – meine Kindheit hatte sie bewusst noch nicht erlebt.

Ihr Geschenk hat mich nun allerdings auf eine Idee gebracht. Ich werde Schwiegermutter um ihre Halbedelsteine im Glasgefäß bitten, meinen Amethysten dazu legen und alles verstauen. Für - sagen wir - etwa fünf Jahre, denn das Mode-Rad dreht sich ja immer schneller. Dann hole ich sie wieder hervor, dekoriere damit meine Schreibtisch und verkaufe sie als den ganz neuen, ganz heißen Trend. Es funktioniert mit Sicherheit.

 
 
 
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